Ghost Street
hervor, »ich habe die Ampel zu spät gesehen.« Sie merkte gar nicht, dass sie immer noch seine Hände hielt. »Tut mir leid … Sie sind doch nicht verletzt?«
»Nein«, erwiderte er. »Und die Jacke und die Jeans wollte ich sowieso schon lange in die Tonne werfen.« Er löste sichvon ihr und wischte sich den gröbsten Schmutz von der Kleidung.
»Ich übernehme natürlich die Reinigungskosten.« Ihre Stimme war ein bisschen heiser, so aufgeregt war sie. »Warten Sie … ich gebe Ihnen meine Visitenkarte. Schicken Sie mir bitte die Rechnung. Ich überweise Ihnen das Geld. Ich kann es Ihnen auch gleich geben. Was wird das kosten? Wären zwanzig Dollar okay? Ach was, ich …«
»Nicht nötig, Miss!«, unterbrach er ihren Redefluss. »Das kann doch jedem mal passieren. Ich bin noch heil, allein das zählt. Und Sie … Sie auch.«
Sie blickte ihm direkt in die Augen und merkte, wie ihr plötzlich die Röte ins Gesicht stieg. Der Mann war nicht unbedingt auffallend attraktiv, aber sein Blick löste ein Gefühl in ihr aus, ein seltsam flaues Gefühl in ihrem Magen, das sie beinahe zittern ließ. Es lag wohl an seinen Augen, die selbst in dem trüben Zwielicht nach dem Gewitter verführerisch funkelten, sie waren blau oder grün, so genau ließ sich das nicht feststellen. Sein Lächeln überstrahlte alles, war milde und herzlich zugleich, zog sie so sehr in seinen Bann, dass sie sekundenlang zu keiner Reaktion fähig war. Auch wenn sonst kaum etwas Besonderes an ihm war. Seine Frisur war altmodisch, die Jeans und die Jacke zerschlissen und die Laufschuhe ein Relikt aus den Siebzigern.
Sie wollte den magischen Moment so lange wie möglich festhalten und kümmerte sich nicht um das Gehupe der anderen Autofahrer, sie merkte nicht einmal, dass die Ampel wieder auf Grün gewechselt hatte und sie beide im Weg standen. »Ich bin Alessa«, sagte sie, als hätten sie alle Zeit der Welt.
»David.« Er lächelte. »David Bolton.«
Dicht neben ihnen hielt ein Taxifahrer und ließ das Seitenfensterherunter. »Wollen Sie hier ewig rumstehen?«, rief er. »Machen Sie endlich die Straße frei oder ich rufe die Polizei!«
»Er hat recht. Wir stehen tatsächlich im Weg.« Sie zog den Mann zu ihrem Wagen. »Wie wär’s, wenn ich Sie zum Essen einlade? Das ist doch das Mindeste, was ich für Sie tun kann.« Sie merkte erst jetzt, dass sie genau das sagte, was man in dieser Situation von einem Mann erwartete. Sie errötete verlegen. »Natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen haben …«
Er fand nichts Anstößiges dabei, von einer Frau eingeladen zu werden, im Gegenteil, er freute sich sogar darüber. »Gern. Aber nur in ein Lokal, in dem man nichts gegen nasse Klamotten hat.« Er berührte seine Jacke.
»Ich kenne einen urigen Italiener, hier ganz in der Nähe, da kümmert sich keiner darum, wie man aussieht.« Sie lief um ihren BMW herum, erleichtert darüber, dass er zugesagt hatte. »Steigen Sie ein! Es ist nur ein paar Blocks von hier. Mögen Sie Pizza?«
»Mit Thunfisch, Zwiebeln und Oliven.« Sie stiegen ein. »Und doppelt Käse. Der Boden muss knusprig sein.«
»Und genau das werden Sie gleich bekommen!« Sie fuhr weiter nach Südosten, aufgeregt wie ein Highschool-Girl vor seinem ersten Date und genauso unsicher. Was hatte dieser David bloß mit ihr angestellt? Ein absoluter Durchschnittstyp, wenn man ihn oberflächlich betrachtete. Er musste magische Kräfte besitzen, sonst hätte sie ihn niemals zum Essen eingeladen und noch viel weniger in ihren Wagen einsteigen lassen. »Das gehört sich nicht«, hätte ihr Vater gesagt, ein Gentleman der alten Schule, der die Meinung vertrat, dass nur ein Mann die Initiative ergreifen dürfe. Er hätte die Hände überm Kopf zusammengeschlagen, ebenso ihre Mutter.
Auch Alessa tat so etwas zum ersten Mal und fühlte sich seltsamerweise gar nicht unwohl dabei. Sicher, sie lebten im 21. Jahrhundert, und eine Frau durfte vieles, was vor vierzig Jahren noch shocking gewesen wäre, aber einen vollkommenen Fremden von der Straße weg zum Essen einzuladen, war heute noch ungewöhnlich.
Sie brauchten nur ein paar Minuten bis zu dem kleinen, aber gemütlichen Restaurant, in dem Alessa mit Mike nur selten gewesen war. Manchmal traf sie sich mit Freundinnen oder Bekannten dort. Weder sie noch er sagten etwas während der kurzen Fahrt, und beide waren verlegen und erröteten, als sich ihre Blicke wie zufällig trafen. Vor dem Italiener parkte sie am Straßenrand.
Der Wirt hielt sie wohl für
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