Ghost Street
wahrscheinlicher als bei einem harmlosen Zeitgenossen, dessen Vater Werbetexter, Drogist oder Bäcker war.
Zum Glück regnete es nicht mehr und Jenn hatte auf der breiten Derenne Avenue gute Sicht. Solange sich keine weiteren gelben Taxis auf der Straße sehen ließen, würde sie ihn nicht aus den Augen verlieren. Hamilton fuhr nicht besonders schnell, was die Sache noch einfacher machte. Offensichtlich hatte er nicht die geringste Ahnung, dass ihn jemand verfolgte. Gemütlich wie selten ein Taxifahrer steuerte er sein Taxi nach Südosten.
Bei der Polizei war er nicht aktenkundig. Jenn hatte ihn von einem Kollegen checken lassen, der lediglich einen Eintrag wegen zu schnellen Fahrens gefunden hatte. Keine Drogen, keine Diebstähle. Er hatte eine blütenreine Weste. Selbst im Prozess gegen seinen Vater war er kaum aufgefallen.»Mir hat er nie was erzählt, ich weiß von nichts«, hatte er gebetsmühlenartig wiederholt, bis man ihn in Ruhe gelassen und seiner Wege hatte ziehen lassen. Von den Medien hatte er sich ferngehalten, wahrscheinlich ein Rat seines Anwalts, der genau wusste, dass zu viel Aufmerksamkeit auch Ärger bedeuten konnte. Lieber im Hintergrund bleiben.
Jenn überholte einen UPS-Truck und kehrte auf die rechte Spur zurück, ungefähr zehn Wagenlängen hinter dem Taxi. Hamilton bog nach rechts in die Abercorn Street, blieb auf der rechten Fahrbahnseite und schien alle Zeit der Welt zu haben. War sie auf der falschen Spur? War Stephen Hamilton tatsächlich ein unbeleckter Bursche, der mit seinem Vater nichts zu tun haben wollte? Während des Prozesses hatte er sich nie für seinen Vater ins Zeug gelegt und in den Medien waren keine herzzerreißenden Berichte à la »Ich weine um meinen Dad« erschienen. Vielleicht war er wirklich sauber.
Nachdem sie an der Oglethorpe Mall, einem großen Einkaufszentrum, vorbeigefahren waren, bog Hamilton in eine schmale Nebenstraße ab. Unter weit ausladenden Bäumen, von denen das Spanische Moos in langen Fäden herabhing, fuhr er in eine der besseren Gegenden, ein romantisches Viertel mit schmucken Holzhäusern, die teilweise den prachtvollen Herrenhäusern der Baumwollkönige vor dem Bürgerkrieg nachempfunden waren.
Jenn bremste ihren Wagen ab und blieb einen Moment stehen, um den Abstand zu Hamilton etwas größer werden zu lassen. Erst als er in der Dunkelheit zu verschwinden drohte, trat sie wieder aufs Gaspedal. Sie folgte Hamilton in eine Seitenstraße, die nur von einigen wenigen Lampen erleuchtet wurde, und schaltete ihre Scheinwerfer aus, als sie ihn vor einem der villenähnlichen Häuser anhalten sah.
Sie parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite und beobachtete neugierig, wie er die Stufen zu der Villa emporstieg und zweimal lang und zweimal kurz an die Tür klopfte. Ein Mann in den Vierzigern öffnete ihm und ließ ihn herein. Jenn kniff die Augen gegen das trübe Licht der beiden Laternen am Hauseingang zusammen und erkannte den Namen der Villa. »Magnolia House« stand in geschwungenen Lettern auf einem ovalen Schild an dem schmiedeeisernen Zaun. Daneben war die Hausnummer zu sehen.
In ihrem Privatwagen hatte Jenn kein Funkgerät, also zog sie ihr Handy hervor und rief einen der jüngeren Kollegen auf seinem Handy an. Jonas hatte Nachtdienst auf dem Revier. Es dauerte, bis er dranging. »Jenn? Bist du das? Ich dachte, du bist mit Harmon unterwegs. Hast du Langeweile?«
»Stell nicht so blöde Fragen.« Jonas gehörte zu den bequemen Typen, die es nie zum Lieutenant schaffen würden. »Ich brauche eine Auskunft.« Sie nannte ihm den Namen und die Adresse des Hauses. »Ich muss wissen, wer dort wohnt. Und pronto , Jonas!«
»Pronto?«
»So schnell wie möglich«, übersetzte sie. Pronto war eines ihrer Lieblingswörter. Der mexikanische Gangster in einer Serie, die in Chicago gelaufen war, hatte es in jedem zweiten Satz gesagt. »Ich bleibe dran, okay?«
»Magnolia House«, murmelte er. »Weißt du, wie viele Magnolia Houses es in Savannah gibt?« Sie hörte, wie er auf seiner Tastatur herumhackte.
»Hast du’s?«
»Hey, das war einfach«, zeigte sich Jonas selbst überrascht. »Peter Kirshner. Ein Immobilienmakler. Einer der wenigen, die nach der Krise noch einigermaßen verdienen.Aber ich denke, er hat genug Kohle auf die Seite gebracht.« Er stutzte. »Was willst du denn von ihm? Hat er was ausgefressen?«
»Erzähle ich dir später mal«, wimmelte Jenn ihn ab. Sie legte auf und blickte zur Villa hinüber. Hinter einigen Fenstern
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