Ghost Street
Er blickte auf die Wanduhr über der Küchentür. »Ich muss langsam gehen, Alessa.«
»Ich fahre dich nach Hause.« Sie winkte den Wirt herbei, ließ sich die Rechnung geben und reichte ihm ihre Kreditkarte. »Wo wohnst du denn?«
Er überlegte eine Weile, fast so, als fiele ihm die Adresse nicht ein. »Beim Colonial Park Cemetery. Du kannst mich einfach vor dem Haupteingang absetzen. Ich wohne in einer Gasse, da kommt man mit dem Wagen nicht rein.« Er lächelte. »Und vielen Dank für die Einladung.«
»Das nächste Mal bist du dran.«
»Wenn das heißen soll, dass es ein nächstes Mal geben wird, zahle ich gern. Ich … vielen Dank, Alessa.«
Es war schon dunkel, als sie das Restaurant verließen. Die Luft war feucht und stickig von dem Gewitter und der Wind brachte den Duft exotischer Pflanzen mit. Heißer Dunst trieb wie Nebel über die Straße hinweg.
Während der Fahrt zum Friedhof sprachen sie wenig. Beide waren in Gedanken versunken, und Alessa hatte das unbestimmte Gefühl, dass sie dasselbe dachten. Was wäre, wenn …? Was wäre, wenn sich etwas Ernsthaftes zwischen ihnen entwickeln würde?
Vor dem Friedhof gab Alessa David ihre Visitenkarte. »Ruf mich an! Und danke, dass du mir vor den Wagen gelaufen bist. Eine wunderbare Idee.«
Sie lachten beide.
Einen Augenblick hatte es den Anschein, als würde er sich zu ihr herüberbeugen, sie in den Arm nehmen und küssen, aber dann wurden nur eine flüchtige Berührung und ein zärtlicher Kuss auf die Wange daraus. Er stieg ohne ein weiteres Wort aus dem Wagen. Seine Lippen hinterließen einen kühlen Abdruck auf ihrer Wange.
Alessa wendete und beobachtete im Rückspiegel, wie David sich dem verschlossenen Gittertor des Friedhofs näherte. Verwirrt trat sie auf die Bremse. Sie drehte sich um, doch er war bereits verschwunden und der Eingang lag einsam und verlassen im nebligen Dunst. Sie starrte noch eine Weile in die dunklen Schatten vor dem Gittertor, dann fuhr sie nach Hause.
13
Stephen Hamilton wohnte im zweiten Stock eines unansehnlichen Mietshauses im Süden der Stadt. Seine Adresse stand im Telefonbuch und die Nummer seines Taxis hatte sich Jenn unter einem Vorwand bei der Taxizentrale besorgt. Kein Grund, den Sohn des ehemaligen Klanführers zu warnen und ihm Zeit zu geben, sich eine Story auszudenken. Das Überraschungsmoment sollte man immer auf seiner Seite haben, vor allem als Cop.
Jenn parkte einen halben Block von dem Haus entfernt auf der anderen Straßenseite. In ihrem alten Toyota fiel sie in dieser Gegend kaum auf. Ein heruntergekommenes Viertel, in dem die Kollegen des Drogendezernats schon so manchen üblen Burschen geschnappt hatten. Die passende Umgebung für Stephen Hamilton, falls das Sprichwort stimmte von dem Apfel, der nicht weit vom Stamm fällt.
Hamiltons Taxi stand vor dem Eingang, eine gelbe Limousine mit der Aufschrift »Yellow Cab«, die auch schon bessere Tage gesehen hatte. Jenn überlegte gerade, ob sie warten oder Hamilton in seiner Wohnung besuchen sollte, als die Tür aufging und der Gesuchte auf die Straße trat. Sie hatte sich Fotos des Mannes angesehen, wusste auch, dass er leicht humpelte, die Folgen einer Schlägerei, und konnte ihn einwandfrei identifizieren.
Ihr Instinkt, durch die jahrelange Arbeit in einer gefährlichen Stadt geschult, riet ihr, ihm zu folgen. Vielleicht führte er sie auf eine interessante Spur. Verhören konnte sie ihn später.
Sie wartete, bis er in sein Taxi gestiegen war und gewendethatte, startete dann den Motor und folgte ihm. In Chicago hatte sie öfter Verdächtige beschattet, zu Fuß, im Wagen und einmal sogar auf dem Fahrrad. Sie wusste, wie man sich am besten verhielt. Man musste den Abstand groß genug halten, um nicht ständig bei dem Verdächtigen im Rückspiegel zu erscheinen, aber man durfte sich nicht zu weit zurückfallen lassen, weil man ihn sonst aus den Augen verlor. Im Dunkeln war es besonders wichtig, diese Regeln zu beachten, weil man in abgelegenen Stadtteilen leichter erkannt wurde und den Verdächtigen eher aus den Augen verlor. Jenn tat weder das eine noch das andere, blieb gerade so weit zurück, dass sie sich nicht verdächtig machte.
Hamilton war nicht im Dienst, sonst hätte das Taxischild auf seinem Auto geleuchtet. Er fuhr zu einer privaten Verabredung. Ein harmloser Besuch bei Freunden? Ein Date mit einer unbekannten Schönen? Dass er den Namen seines Vaters trug, musste nicht heißen, dass er ebenfalls ein gemeiner Verbrecher war. Aber es war
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