Ghost Street
hatte so geparkt, dass sie den Chevy des Dealers im Blickfeld behalten und sofort losfahren konnte, falls es brenzlig wurde. Doch erst einmal geschah gar nichts. Candy Man blieb ruhig in seinem Wagen sitzen und vor dem Lagerschuppen blieb es verdächtig still. Am Ufer ragte der Bug eines mächtigen Frachters empor. Auch an Bord brannten kaum Lichter. Im Dienstwagen hätte sie ein Fernglas gehabt, aber sie erkannte auch so, dass der Frachter unter russischer Flagge fuhr, zumindest einen russischen Namen hatte. Die Schriftzeichen waren deutlich zu erkennen.
Jenn überlegte angestrengt. Ihr Bauchgefühl sagte ihr, dass der »große Boss«, den ihr Lieutenant schnappen wollte, ein Russe war und sich an Bord des Frachters relativ sicher fühlte. An Bord eines ausländischen Schiffes hattenDetectives der Savannah Police wenig zu sagen. Einen solchen Mann bekam man nur zu fassen, wenn man ihn von Bord lockte und irgendwo an Land schnappte oder das FBI und die Küstenwache einschaltete.
Nur vage Gedanken, wie sie sich selbst gegenüber zugab, genauso gut konnte der russische Frachter auch gar nichts mit der Sache zu tun haben. Aber warum sollte Candy Man sonst zum Hafen gefahren sein? Wenn die Drogen über Land kamen, wäre er irgendwo in einer abgelegenen Gegend viel sicherer gewesen. Hier konnte er jederzeit einem Seemann oder Hafenarbeiter auffallen. Was hatte der Bursche vor?
Jenn sollte es schon bald herausfinden. Es waren noch keine fünf Minuten vergangen, als auf dem Deck des Frachters eine Taschenlampe aufflackerte. Kurz kurz lang kurz, lang kurz kurz kurz, kurz kurz. Ein Witzbold. Jenn beherrschte das Morsealphabet gut genug, um die Buchstaben »FBI« zu erkennen. Candy Man antwortete mit lang lang lang und lang kurz lang, die Zeichen für »OK«.
Gleich darauf stieg Candy Man aus und ging mit einer Reisetasche auf den Frachter zu. Er stieg die Gangway hinauf und verschwand im Bauch des Schiffes. Es war nicht schwer zu erraten, was dort ablaufen würde. Candy Man würde das Geld in seiner Tasche gegen einige Pakete mit Heroin oder Kokain tauschen. Mit den Drogen würde er nach Hause fahren und sie in den nächsten Wochen oder Monaten unter die Leute bringen oder an kleine Dealer weiterverkaufen. Er war ein viel größerer Fisch, als sie angenommen hatten.
Sie zog ihr Handy heraus und rief Harmon an. Alles andere wäre zu kompliziert gewesen. Es dauerte endlos lange, bis er an den Apparat ging.
»Ja?«, murmelte er verschlafen.
»Jenn«, meldete sie sich knapp. »Ich brauche deine Hilfe! Und zwar sofort!«
»Jenn?« Sie hörte, wie er beruhigend auf seine Frau einsprach. »Was soll das? Weißt du, wie spät es ist?«
Sie ging nicht auf ihn ein. »Ich hab den Dealer!«, sagte sie stattdessen. Sie beschrieb ihm in wenigen Worten die Lage. »Hol das FBI und die Küstenwache und komm am besten auch selbst her! Könnte sein, dass ich Schwierigkeiten bekomme. Beeil dich! Ich folge dem Candy Man an Bord.«
»Bist du verrückt? Das ist viel zu gefährlich, Jenn! Warte, bis das FBI …«
»Ich muss los«, würgte sie ihn ab. Sie stellte das Handy auf »Lautlos« und steckte es ein. Mit der Pistole schussbereit in der rechten Hand stieg sie aus und folgte dem Dealer.
Im Schutz einiger abgestellter Container schaffte sie es bis zur Gangway. Sie wartete, bis sie sicher sein konnte, von niemandem beobachtet zu werden, und lief in das Schiff hinein.
An Bord blieb sie abwartend stehen. Rechts von ihr gab es eine steile Treppe an Deck, links von ihr führte ein langer Gang an der Schiffswand entlang. Die einzigen Schiffe, auf denen sie bisher gewesen war, hatten Eisenerz über den Lake Michigan transportiert und waren ungefähr so groß gewesen wie dieser Frachter, und dort hatte es einige wenige Kabinen für Passagiere gegeben. Sie nahm an, dass es auf diesem Schiff ähnlich war.
Sie lauschte angestrengt, aber außer einem leisen Summen war nichts zu hören. Keine Schritte, keine verräterischen Stimmen. Aber da Candy Man nicht an Deck aufgetaucht war, nahm sie an, dass er in dem Gang verschwunden war. Mit der Pistole im Anschlag wagte sie sich hinein. Sie wusste natürlich, dass sie gegen alle Vorschriften verstießund sich ohne einen Partner niemals in eine solche Gefahrensituation begeben dürfte, aber wenn sie den Dealer und den anderen Mann auf frischer Tat ertappen wollte, blieb ihr keine andere Wahl. Sie musste es allein versuchen.
Sie lauschte an jeder Tür, wagte sogar, die Klinken nach unten zu drücken,
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