Ghost Street
habe ich Ihnen etwa nicht gesagt, dass Lydia Murrell heute Vormittag dem Haftrichter vorgeführt wird und dass Sie die Anklage vertreten?« Er blickte auf seine Armbanduhr. »In … zwei Minuten?«
»Lydia Murrell?«, erwiderte sie ungläubig. »Ich soll helfen, Lydia Murrell zu verurteilen? Die Frau, der ich gestern noch … ich meine, der wir Mut gemacht haben, ihren Mann anzuzeigen? Wie passt das zusammen, Jack? Lydia Murrell hat in Notwehr gehandelt. Sie ist unschuldig. Ich will nicht, dass man sie einsperrt. Unmöglich!«
»Wir sind alle auf ihrer Seite, Alessa. Natürlich hatte sie einen guten Grund, ihrem Mann ein Messer in den Rückenzu rammen. Aber wir sind für die Staatsanwaltschaft tätig und vertreten die Rechte unseres Volkes. Und außerdem …« Es schien ihm ein wenig peinlich zu sein. »Außerdem stehen bald wieder Wahlen an. Wir können sie nicht ohne Strafe davonkommen lassen. Ein paar Jahre, Alessa, und wenn sie sich einigermaßen gut führt, ist sie nach der Hälfte wieder draußen.«
»Sie wollen eine Frau hinter Gitter bringen, die jahrelang von ihrem Mann gedemütigt und misshandelt wurde?«
»Das sind zwei Paar Schuhe, die Misshandlungen und der Mord. Wenn sie ihren Ehemann anzeigt, nehmen wir uns auch den vor.« Er öffnete seine Bürotür und blieb noch einmal stehen. »Sagen Sie … mir wurde zugetragen, dass Sie Lydia Murrell den Anwalt besorgt haben. Ausgerechnet Mercer.«
»Sie hat ihn verdient, Jack.«
»Und Sie haben es verdient, sich mit ihm auseinanderzusetzen, Alessa. Gehen Sie, der Haftrichter wartet sicher schon.« Er lächelte. »Und lassen Sie sich von dem Fuchs Mercer nicht den Schneid abkaufen. Der kocht auch nur mit Wasser. Geben Sie ihm Kontra.«
Alessa steckte ihr Handy ein. Missmutig griff sie nach ihrer Kostümjacke. »Das ist nicht gerecht, Jack. Wie stehe ich denn da, wenn ich die arme Frau auf diese niederträchtige Weise hintergehe? Das ist einfach nicht gerecht.«
»Es gibt keine Gerechtigkeit«, erwiderte Jack Crosby, »das hab ich schon auf dem College gelernt. Wir vertreten das Recht, und das kann leider manchmal auch sehr ungerecht sein.«
Den Satz hatte Alessa schon oft gehört und nie akzeptiert. Ohne ein weiteres Wort verließ sie den Raum.
29
Jenn hatte bereits den Wagen vom Parkplatz geholt und sammelte Harmon zu Hause ein. »Und womit hab ich den Abholservice verdient?«, fragte er, während er seiner Frau zuwinkte. Die Zwillinge waren anscheinend noch in der Schule. »Hast du’s etwa eilig?«
»Alessa hat angerufen.« Sie erzählte ihm, was die Staatsanwältin über Florence Hawkley herausgefunden hatte. »Wir müssen dringend mit Florence sprechen. Sie könnte das nächste Opfer sein. Toby Snyder hat keine lebenden Verwandten mehr, seine Freundin ist die einzige Verbindung zu ihm. Wenn der Killer ähnlich gründlich war wie Alessa, weiß er, wer sie ist. Ich hab schon mit dem Seniorenheim telefoniert. Sie kommt nicht ans Telefon, sie ist schwerhörig. Die Pflegerin wusste nur, dass sie irgendwann in nächster Zeit wieder zu ihrer Nichte fahren will. Sie entscheidet sich immer spontan.«
Harmon blickte sie erschrocken an. »Du meinst, der Killer will tatsächlich den Bus sprengen? So wie damals?«
»Was sonst? Bisher hat er Jeremy Hamilton genau kopiert. Ich weiß zwar nicht, wie er es anstellen will, dass nur sie im Bus sitzt, wenn er den Sprengsatz zündet, und ob seine Komplizen das mitmachen, aber wir müssen damit rechnen. Zuerst sprechen wir mal mit der alten Dame. Solange sie nicht im Bus sitzt, kann nichts passieren.«
Jenn war losgefahren und steuerte auf die Interstate nach Westen zu. Harmon blickte sie von der Seite an. »Ich nehme an, du hast den Lieutenant benachrichtigt und den FBI-Fritzen.«
»Den Lieutenant«, stellte sie richtig. »Ich hab ihm gesagt, dass wir einer heißen Spur nachgehen. Kein Grund, die Pferde scheu zu machen, bevor wir Genaueres wissen. Wir müssen erst mal rauskriegen, ob sie tatsächlich mit Snyder befreundet war. Alessa konnte mir nämlich nicht sagen, woher sie die Information hat. Eine heimliche Quelle, mehr wollte sie nicht verraten.«
»Und Sunflower?«
»Hat keine Ahnung.«
Harmon seufzte. »Es hat wohl keinen Zweck, dich darauf hinzuweisen, dass du im Begriff bist, deinen Job zu riskieren. Und meinen, nebenbei gesagt. Das FBI ist für den Fall zuständig.«
»Na und?« Jenn ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Warum sollen wir Special Agent Sunflower mit solchen Lappalien belasten? Er
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