Ghost Street
machen ihnen weis, dass die Kreuzung umstellt ist.«
»Toller Plan!« Harmon wäre am liebsten umgekehrt, fuhr aber weiter. »Und du meinst, die glauben den Unsinn?«
»Mach dir nicht in die Hose! In Chicago haben wir uns ganz andere Dinger geleistet. Hab ich dir schon von dem Heckenschützen erzählt, der es auf die Hochbahn abgesehen hatte …?«
»Ich will’s gar nicht wissen!«, wehrte er ab. »Und ich will nie nach Chicago!«
Vor ihnen tauchte die Kreuzung auf. Eigentlich nur eineeinsame Haltestelle zwischen den Maisfeldern. Ein breiter Feldweg kreuzte den Highway und verlor sich zwischen den Stauden.
Jenn hatte längst ihre Pistole gezogen und hielt sie versteckt in beiden Händen. Den Kragen ihrer leichten Jacke hatte sie hochgeschlagen, um nicht sofort als Weiße erkannt zu werden. Wenn der Killer und die Klansmänner wussten, dass sich Florence Hawkley in dem Bus befand, sahen sie vielleicht nicht so genau hin. Auch Harmon hatte seine Waffe griffbereit.
Jenn wusste selbst, wie riskant ihr Einsatz war, und dass man sie zur Verantwortung ziehen würde, wenn die Sache schiefging. Dennoch ließ sie nicht davon ab. Sie konnte nicht anders. Wenn es eine Chance gab, den Killer und seine Komplizen zu fassen, musste sie zuschlagen. Um Verstärkung anzufordern, war es längst zu spät, und gebracht hätte der Großeinsatz sowieso nichts. Man hätte ihn niemals geheim halten können.
Harmon stieg auf die Bremse und hielt vor der Haltestelle. Dort wartete niemand, auch die Klansmänner waren nirgendwo zu sehen. Nur die Maisfelder und der bewölkte Himmel.
Wenn alles so abläuft wie bei Hamilton, müssten sie jetzt auftauchen, dachte Jenn. Damals waren die Klansmänner aus dem Feldweg gekommen, als der Bus gehalten hatte.
»Nichts«, sagte Harmon nach einer Weile. Obwohl die Klimaanlage im Bus auf vollen Touren lief, stand ihm der Schweiß auf der Stirn. »Niemand hier. Sie haben wahrscheinlich geahnt, dass wir die Lady beschützen.«
Sie warteten fünf Minuten, zehn Minuten. Harmon hatte längst die Tür geöffnet und ließ die schwüle Nachmittagsluft herein. Es roch schon wieder nach einem nahenden Gewitter.
»Lass uns auf Nummer sicher gehen«, schlug sie vor. »Du links vom Feldweg, ich rechts. Wenn sie hier sind, können sie nicht allzu weit sein.«
Sie suchten die ganze Gegend ab, schlichen geduckt durch die Maisfelder und sahen in einer verlassenen Scheune nach, in der lediglich ein paar leere Bierdosen lagen. Wahrscheinlich Landarbeiter, die sich eine Pause gegönnt hatten. Nach einer halben Stunde trafen sie sich am Bus.
»Nichts«, sagte Harmon.
»Falscher Alarm«, erkannte Jenn. Sie war wesentlich enttäuschter als ihr Partner und steckte ihre Waffe nur widerwillig ins Gürtelholster zurück.
»Und jetzt?«, fragte Harmon.
Jenn kletterte in den Bus. »Fährst du den Bus zu den Passagieren zurück und entschuldigst dich brav bei ihnen. Ich schnappe mir Florence und erkläre ihr vorsichtig, in welcher Gefahr sie schwebt und dass wir gut auf sie aufpassen werden. Dann fahren wir zum Lieutenant und unserem neuen Freund, Special Agent Matthew Sunflower vom FBI, zurück und machen ihnen klar, dass Florence dringend Polizeischutz braucht.« Sie setzte sich. »Ist das in deinem Sinne?«
Harmon setzte sich hinters Steuer und wendete den Bus auf dem Feldweg. »Und wir verlieren natürlich kein Wort über unsere Busfahrt. Nur wenn es gar nicht mehr anders geht. Hab ich recht?«
»Wie immer«, erwiderte Jenn.
30
Alessa erhob sich und ging auf die Angeklagte zu, einen Kugelschreiber in der linken Hand. Ihre halbhohen Absätze klapperten über den Boden.
Noch nie hatte sie sich während einer Verhandlung so unwohl gefühlt. Alle Blicke, die der Geschworenen und des Publikums in dem voll besetzten Gerichtssaal, schienen sie mit Verachtung zu strafen. Selbst der Richter schien nicht zu verstehen, warum eine Staatsanwältin, die alles dafür getan hatte, die Angeklagte vor einem Prozess zu bewahren, selbst die Anklage vertrat. Wollte ihr Chef sie auf die Probe stellen und herausfinden, ob sie auch in einem so kniffligen Fall Haltung bewahrte? Ob sie es schaffte, alle Emotionen beiseitezuschieben?
Nur mühsam gelang es ihr, der Angeklagten in die Augen zu blicken. »Mrs Murrell«, begann sie, »Sie waren einige Tage wegen eines Armbruchs, eines Nasenbeinbruchs und etlicher kleiner Verletzungen im St. Joseph’s Hospital in Behandlung. Stimmt das?«
»Ja, Ma’am.« Lydia Murrell saß unruhig auf ihrem
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