Ghost
fiel mir auf, dass ich schon eine Stunde über dem Manuskript saß und es inzwischen Zeit zum Abendessen war. Nachdenklich betrachtete ich die Sachen, die sie mir aufs Bett gelegt hatte. Ich bin der Typ, den Engländer »anspruchsvoll« und Amerikaner »pingelig« nennen: Ich esse nicht gern, was schon auf dem Teller eines anderen gelegen hat, ich trinke nicht gern aus dem Glas eines anderen, und ich trage auch nicht gern Sachen, die nicht meine eigenen sind. Aber die hier waren sauberer und wärmer als alles, was ich im Augenblick hatte, und außerdem hatte sie sich die Mühe gemacht, sie mir zu holen. Also zog ich sie an und ging nach oben.
*
In dem gemauerten Kamin brannten Holzscheite, und irgendwer, wahrscheinlich Dep, hatte überall im Raum Kerzen angezündet. Die in den Rasen eingelassenen Überwachungsscheinwerfer waren angeschaltet und beleuchteten kahle weiße Baumsilhouetten und die grünlich gelbe, im Wind schwankende Vegetation. Als ich den Raum betrat, klatschte gerade ein Regenschauer gegen das riesige Panoramafenster. Ich kam mir vor wie in einem luxuriösen Boutique-Hotel in der Nachsaison, das nur noch zwei Gäste beherbergte.
Ruth saß in der gleichen Haltung wie am Morgen da, mit untergeschlagenen Beinen, auf dem gleichen Sofa, und las in der New York Review of Books. Auf dem niedrigen Couchtisch vor ihr lagen zu einem Fächer ausgebreitet Zeitschriften, und daneben stand – Vorbote dessen, was da kommen sollte, wie ich hoffte – ein langstieliges Glas mit einer Flüssigkeit, die wie Weißwein aussah. Sie hob den Blick und schaute mich beifällig an.
»Passt perfekt«, sagte sie. »Und jetzt brauchen Sie noch etwas zu trinken.« Sie beugte den Kopf über die Rückenlehne des Sofas, wobei ihre Halsmuskeln hervortraten, und rief mit ihrer maskulinen Stimme in Richtung Treppe: »Dep!« Dann fragte sie mich: »Was möchten Sie?«
»Das, was Sie trinken.«
»Biologisch-dynamisch angebauter Weißwein aus der Rhinehart Vinery in Napa Valley.«
»Whisky machen die nicht, oder?«
»Der Wein ist köstlich. Sie müssen ihn unbedingt probieren. – Dep«, sagte sie zu der Haushälterin, die oben an der Treppe aufgetaucht war. »Bring bitte die Flasche, ja? Und noch ein Glas.«
Ich setzte mich ihr gegenüber. Ruth trug ein langes rotes Wickelkleid, und auf ihr sonst immer porentief reines Gesicht hatte sie einen Hauch Make-up aufgelegt. Gerade weil um sie herum die Bomben einschlugen, bildlich gesprochen, hatte die Entschlossenheit, mit der sie eine Show abziehen wollte, etwas Anrührendes. Fehlte nur noch das Grammofon mit Handkurbel, und wir hätten ausgesehen wie ein altmodisches, resolutes Paar aus einem Noël-Coward-Stück. Dep schenkte mir Wein ein und ließ die Flasche stehen.
»Wir essen in zwanzig Minuten«, sagte Ruth. »Vorher müssen wir uns noch die Nachrichten anschauen.« Sie nahm die Fernbedienung in die Hand und stieß damit energisch in Richtung Bildschirm. »Cheers«, sagte sie und hob ihr Glas.
»Cheers«, wiederholte ich und nahm ebenfalls mein Glas.
Ich kippte meinen Wein in dreißig Sekunden hinunter. Weißwein. Was ist der Witz dabei? Ich nahm die Flasche und studierte das Etikett. Anscheinend waren die Reben auf einem Boden angebaut worden, den man im Einklang mit dem Mondzyklus unter Verwendung von natürlichem Dünger bewirtschaftete, Dünger, der aus Stierhorn und den in einer Hirschblase fermentierten Blütenköpfen der gemeinen Schafgarbe gewonnen wurde. Das klang nach der Art von verdächtiger Aktivität, für die man früher Menschen völlig zu Recht als Hexen verbrannt hatte.
»Schmeckt er Ihnen?«, fragte Ruth.
»Zart und fruchtig«, sagte ich. »Mit einem Hauch Blase.«
»Na dann, schenken Sie nach. Da ist Adam. Gott, die machen mit der Geschichte auf. Ich glaube, ich muss mich betrinken.«
Die Schlagzeile neben der Schulter des Nachrichtensprechers lautete: LANG – KRIEGSVERBRECHEN. Mir stieß unangenehm auf, dass man sich nicht einmal mehr die Mühe machte, ein Fragezeichen dahinterzusetzen. Dann die vertrauten Bilder vom Morgen: die Pressekonferenz in Den Haag, Lang beim Verlassen des Hauses auf Martha’s Vineyard, die Erklärung für die Reporter auf der Straße nach West Tisbury. Dann Washington: Lang sonnt sich bei der Begrüßung durch Kongressmitglieder im Glanz von Blitzlichtern und wechselseitiger Bewunderung; danach, melancholischer, das Treffen mit dem Außenminister. Im Hintergrund war deutlich Amelia Bly zu erkennen: die offizielle
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