Gib mir meinen Stern zurück (German Edition)
Lokalnachrichten studiert, doch es war weder der Mord an einem Münchner Anwalt noch ein Einbruch oder Hausbrand gemeldet worden. Auch war keine Wasserleiche am Ufer des Starnberger Sees angeschwemmt worden.
Aber das konnte ja noch kommen.
Immer wieder rief sie sich ins Bewusstsein, dass ihr Nachbar nie viel von sich preisgegeben hatte. Er schien eine gute Erziehung genossen zu haben, aber wo war er aufgewachsen? Und warum sprach er dieses verquere Russisch, hatte jedoch Probleme mit seiner Muttersprache? Ob er gar nicht in Deutschland geboren war? Das könnte des Rätsels Lösung sein.
Ab und an versetzte er sie mit seinen raubtierhaften Bewegungen und seiner Geschwindigkeit heftig in Erschrecken. Der Figur nach zu urteilen musste er ein sagenhafter Sportler sein, wenngleich sie ihn noch nie beim Joggen oder Ähnlichem gesehen hatte. Und immer wieder blitzte das Bild in ihrem Kopf auf, mit welcher Leichtigkeit er Alex einhändig hochgehoben hatte.
Sie wusste, dass Rafael viel Zeit vor dem Fernseher verbrachte oder aber an dem seltsamen, kleinen Computer, dessen Form sie an einen Delfin erinnerte. Valerie kannte sich mit neumodischem, technischem Schnickschnack nicht sonderlich aus, doch so ein Gerät war ihr noch nie untergekommen. Ein Prototyp aus dem Weißen Haus, vielleicht.
Da nahm eine verwirrende Idee in ihrem Kopf Gestalt an. Konnte er ein Geheimagent sein? Womöglich war der Job als Bodyguard ja in Wirklichkeit ein Undercovereinsatz. Immerhin hatte er in den letzten Tagen gleich zweimal sang- und klanglos das Weite gesucht. Plus der lange Trip mit dem Motorrad.
Angeblich in die Alpen, bei dieser Kälte!
Weiß der Geier, was er indessen ausgekundschaftet hatte. Ob er auf irgendeine gemeingefährliche Terrorzelle angesetzt war? Oder aber … Was, wenn er selbst ein Terrorist war? Vielleicht hatte ihn der Secret Service in einem Kronzeugenschutzprogramm untergebracht, da er gegen die Russenmafia ausgesagt hatte – die ihm früher oder später doch auf die Schliche kommen würde. Bei der Vorstellung schüttelte es sie, und sie beschloss, die Probe aufs Exempel zu machen, ob er in der Tat der russischen Sprache mächtig war.
Doch dann nahmen ihre Gedanken eine Wendung. Ausgemachter Blödsinn! Jetzt ging die Fantasie mit ihr durch. Sie war selbst schon ganz paranoid. Und überhaupt, es spielte doch alles keine Rolle! Fakt war, dass sie sich in Sicherheit wiegte, seit Rafael unter ihr seine Zelte aufgeschlagen hatte.
Noch dazu war ihr in den letzten Tagen fast schmerzhaft bewusst geworden, wie sehr sie sich nach einem Mann sehnte. Denn Rafaels pheromongetränkte Ausstrahlung rief ihr bei jeder Begegnung unwillkürlich in Erinnerung, dass sie mit ihren siebenundzwanzig Jahren eine Frau im besten Alter war und ihr Körper voller Habgier nach heißem Sex verlangte.
Da schreckte ein Rascheln sie auf. Hastig schoss sie hoch. In diesem Moment fiel Rafaels Haustür ins Schloss. Verwundert spähte sie nach unten. Die einsetzende Dämmerung warf nun silberne Fäden über die Bäume und Sträucher, und bis auf die plärrende Amsel herrschte wieder Totenstille. Wahrscheinlich bildete sie sich vor lauter Nervosität schon Dinge ein.
Erneut drang ein Geräusch an ihr Ohr. Und plötzlich traute sie ihren Augen nicht mehr. Etwas Glitzerndes schoss durch den Garten, begleitet von einem raubtierähnlichen Knurren. Ein ängstlicher, unartikulierter Laut entrang sich ihren Lippen, während die Furcht mit eisigen Fingern nach ihr griff. Schützend schlang sie die Decke fester um die Schultern.
Die ersten Strahlen der Morgensonne schlichen über den Rasen und ließen die Tautropfen glitzern. Den Blick weiterhin starr in den Garten gerichtet, bemerkte sie erneut etwas Silbriges, das aufs Haus zujagte. Und schließlich wieder Rafaels Wohnungstür.
Lieber Gott …
Sie fuhr herum, stolperte blindlings in ihre Wohnung und verriegelte zitternd die Balkontür von innen. Minutenlang harrte sie bibbernd mitten im Raum aus. Was ging hier vor sich? Verängstigt schleppte sie sich ins Schlafzimmer, kroch ins Bett und zog die Decke bis zur Nase hoch.
So war es also, wenn man an der Schwelle zur Schizophrenie kratzte.
In der vagen Hoffnung, dass Tristan indessen ruhig Blut bewahrte, raste Rafael wie der Henker zum Supermarkt. Er war so durch den Wind, dass er den Versuch, Radarfallen zu orten, just nach der ersten Abfahrt aufgab. Sollten sie ihn doch ablichten, egal – er hatte weiß Gott schwerwiegendere Probleme zu bewältigen.
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