Gifthauch
kam, dass Matt Gray sie vielleicht zum Sündenbock aufbaute: »Ach, und, Stillwater?«
Er blickte sie an.
»Keine Fehler mehr. Wir können sie uns nicht leisten.«
52
15.07 Uhr
Michael Church rauchte vor Wut. Kaum dass er wieder im Auto saß, drehte er die Stereoanlage auf volle Lautstärke, und ein MP3 von J Slim ließ die Fenster rattern. Er würde wohl am besten nach Hause fahren. Aber er wollte nicht nach Hause. Er wusste überhaupt nicht, was er tun wollte. Der Tag war derart voller Offenbarungen gewesen, dass er nicht mehr wusste, wo ihm der Kopf stand. Sein Vater war ein Spion gewesen.
Er empfand etwas, das vielleicht Stolz war. Seine Mutter hatte über seinen Vater nie sprechen wollen, und schon gar nicht über seinen Tod. Von ihr hatte er nur erfahren, dass sie beide in der US-Botschaft in Tansania gearbeitet hatten und er bei einem Terroranschlag umgekommen war. Ihr gesamtes Gebaren, wann immer Michael das Thema anschnitt, zeigte ihm, dass sie nicht darüber reden wollte.
Ein Teil Michaels, der erwachsene Teil, begriff, dass es für seine Mutter furchtbar schlimme Erinnerungen sein mussten. Man konnte nicht seinen Mann bei einem Bombenanschlag verlieren, als alleinstehende Frau einen Sohn großziehen und dabei nicht irgendwie traumatisiert werden.
Doch Michael war erst sechzehn, was bedeutete, dass er hauptsächlich von Hormonen gesteuert wurde und in einem ungesunden Ausmaß selbstbezogen war. Seine Physis ließ ihn wie einen Erwachsenen erscheinen, doch sein Urteilsvermögen hinkte noch weit hinterher.
Im Grunde wusste er das auch. Manchmal bemerkte Michael, dass er Dinge tat, die sein Körper verlangte, obwohl sein Verstand ihm davon abriet. Dann war es, als lebte ein Gremlin in seinem Kopf oder ein Poltergeist.
Und im Augenblick tanzte der Poltergeist ein Unwetter herbei. Immer wieder trat Michael die Leiche der Frau vor Augen, die in ihrem eigenen Bett erstickt war, weil dieser Scheißkerl, die Schlange, ihr Mund und Nase mit Paketband zugeklebt hatte.
Ihm schauderte, wenn er daran dachte. Was für ein Mensch war dazu fähig?
J Slim schrie Obszönitäten, sprach von der Ungerechtigkeit der Welt und davon, es ihr heimzuzahlen, indem er unangepasst lebte:
»… was soll der Dreck,
lass dir nichts gefallen, Jack.
Das Leben ist nicht fair,
niemand gibt 'nen Scheiß um dich,
jeder denkt hier nur an sich …«
Michael wippte im Rhythmus des Rap mit dem Kopf und versuchte, nicht an die tote Frau zu denken. Und nicht an die Angst, die er um seine Mutter hatte, weil sie die Schlange jagte, weil sie jemandem auf der Spur war, der einen anderen Menschen absichtlich ersticken ließ.
Er empfand einen gewissen Stolz darauf, wie Derek Stillwater ihm begegnet war. Stillwater hatte ihn behandelt, als wäre er ein Erwachsener. Hatte offen mit ihm geredet. Aufrichtig. Hatte ihn um seine Hilfe gebeten, wenn sie auch nur darin bestanden hatte, den Wachhund zu spielen für den Fall, dass etwas schiefging, und so war es ja auch gekommen. Hatte ihm diesen Spritzenstift gegeben mit dem Auftrag, vorsichtshalber die Gebrauchsanweisung zu lesen. Stillwater war mit ihm umgegangen, als sei er der Aufgabe gewachsen, und der Verantwortung.
Michael fuhr zu Ray Moretti, denn er sagte sich, dass Ray mittlerweile wahrscheinlich zu Hause war. Er parkte vor dem Haus, einem großen, modernen zweistöckigen Gebäude mit einem kleinen, gepflegten Garten. Rays Schwester Ann war zu Hause. Sie war zwei Jahre älter als Ray und Michael, und obwohl Michael es Ray gegenüber nie zugegeben hätte, fand er sie heiß. Sie hatte langes schwarzes Haar und große Augen und trug enge T-Shirts und tief sitzende Jeans. Wenn er sie sah, geriet er ins Brodeln.
»Hey«, sagte er, als sie die Tür öffnete.
Ann lächelte. Sie war im letzten Schuljahr und plante, im kommenden Jahr an der Universität von Michigan ein Medizinstudium zu beginnen. Sie war eine gute Schülerin, gehörte der National Honor Society und der Leichtathletikmannschaft an, und in der Schulband spielte sie Flöte. »Hi, Michael. Ray ist oben.«
»Hey«, sagte er wieder und wich ihrem Blick aus. »Äh, wie geht's?«
»Ganz okay. Hast du von dieser Schlange gehört?«
Er lächelte ihr zu. Mann, was war es für ein Hochgefühl, sie nur anzuschauen. Gott, war sie heiß.
»Yeah«, antwortete er. »So ein Psycho.«
»Arbeitet deine Mutter an dem Fall?«
Michael blinzelte. »Äh, yeah, aber, du weißt schon, ich darf nicht darüber reden.«
»Ray sagt, du hast ihn
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