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Giftspur

Giftspur

Titel: Giftspur Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Holbe
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skeptisch. »Sprechen wir von Wanzen im Koffer, so wie im Fernsehen?«
    »Ja und nein«, lächelte Angersbach. »Nicht wie im Fernsehen, aber wir werden das Geld nicht im Blindflug auf die Reise schicken.«
    Blindflug.
Da war sie wieder, eine der unzähligen Metaphern aus der Welt der Sehenden. Es war nicht das schlechte Gewissen, das ihn plagte, weil er eine blinde Zeugin nicht ernst genommen hatte. Ambiguitätstoleranz. Ein Begriff, der ihm unlängst in einem sozialpädagogisch gefärbten Artikel einer Fachzeitschrift zum Thema Jugendkriminalität untergekommen war. So zu verstehen, dass die eigene Perspektive sich gegenüber anderen Lebensentwürfen nicht verengen durfte. Ein wenig mehr Offenheit und Akzeptanz konnte wohl nicht schaden, schloss Ralph. Lieber gegenüber seiner Kollegin, oder auch gegenüber einer Blinden.
    Aber wohl kaum gegenüber Janine.
     
    Aus dem Stimmengemurmel der Beamten, die sich hinter der zur Hälfte geschlossenen Schiebetür von Reitmeyers Büro befanden, löste sich ein Geräusch. Schritte, dann das Schaben der Rollen auf der hängenden Schiene, als die Tür bis zur Gänze aufgeschoben wurde. Sabine fuhr herum, erkannte einen Mann, der gut und gerne eins neunzig sein musste und der sich ihr zielstrebig näherte. Sein dunkles, wild gekräuseltes Haar war straff nach hinten gezogen und schien einzig und alleine durch das Haargummi gebändigt zu sein. Einzelne Locken, die über Stirn und Schläfen hingen, ließen darauf schließen, dass die Frisur ihm allmorgendliche Kraftproben abverlangte. Die gedrehten Spitzen der Mähne reichten bis zwischen die Schulterblätter und breiteten sich wie Efeu auf dem Rücken aus. Auf der spitzen Nase saß eine rahmenlose Brille mit achteckigen Gläsern, kaum ein besserer Zwickel. An den dünnen Drahtträgern baumelte eine schwarze Nylonschnur, die im Dickicht der Haare verschwand und den Anschein erweckte, als verbände sie beide Ohren miteinander.
    »Sie müssen Angersbach oder Kaufmann sein«, lächelte der Mann freundlich und streckte die Hand aus.
    »Beides«, gab Sabine nickend zurück, »ich bin Letzteres.«
    »Volker Leydt.«
    Sein Händedruck war so kräftig, als schwänge er den ganzen Tag über den Schaft einer Axt, und Sabine hatte Mühe, ihr Gesicht nicht zu verziehen. Sie zog die Hand mit eingefrorenem Lächeln zurück. Prompt sprach er weiter: »Sorry, ich sollte mir angewöhnen, weniger fest zuzudrücken. Ich bin Kriminalpsychologe«, er kicherte, »und in der Regel sanft wie ein Kätzchen. Wobei dieses Bild ein sehr trügerisches ist. Auf das Naturell einer Katze trifft wohl kaum ein Begriff weniger zu als
sanftmütig.
Haben Sie eine Katze schon mal jagen und töten sehen? Aber Verzeihung«, unterbrach er sich und fuhr sich über die Stirn, »wir sind nicht hier, um über Stubentiger zu reden.«
    »Gewiss nicht«, schmunzelte die Kommissarin. Der schlaksige Mann, dessen Statur sie an einen Basketballspieler erinnerte, trug ein weißes Jeanshemd, darüber eine schwarze Jeansweste und verwaschene Bluejeans.
    Wenigstens keine Lederstiefel,
dachte Sabine nach einem prüfenden Blick nach unten. Von der Behaarung abgesehen, hätte er nicht mehr viel gebraucht, um in die Gestalt des Marlboro-Mannes zu schlüpfen.
    »Ich berate die Spezialisten, die sich mit der Erpressung befassen«, erklärte er hastig und wies mit der Hand dorthin, wo er hergekommen war.
    »Erstellen Sie etwa ein Psychogramm von diesem Paracelsus?«
    »Ja. Wir sollten unsere Ergebnisse miteinander abgleichen.«
    »Gerne, Herr Heydt …«, nickte Sabine, und prompt unterbrach dieser sie: »Leydt. So wie Freud, nur mit Y-D-T.« Er grinste.
    »Sorry«, murmelte die Kommissarin nur, denn ihre Gedanken waren an einem völlig anderen Ort.
    Sie zogen sich in eine ruhige Ecke des Wohnzimmers zurück, nachdem Angersbach ihr signalisiert hatte, dass er bei Claudia verweilen würde. Frau Reitmeyer schien kein Interesse an einer Analyse des Erpressers zu haben, oder gab dies zumindest vor, was Sabine etwas irritierte. Hatte sie Vera bereits endgültig verurteilt? Oder genoss sie die Anschuldigung ihrer Feindin einfach nur und wusste insgeheim, dass jemand anderer dahintersteckte?
    »Sie haben vermutlich mitbekommen, dass wir heute eine Verhaftung samt Freilassung auf dem Programm hatten«, begann Sabine. Sie drehte ihren Kopf in Richtung des Panoramafensters und ließ ihren Blick über den Horizont wandern. In der Ferne zeichneten sich die Ausläufer der Großstadt ab, Offenbach,

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