Giftspur
Maintal, Bergen-Enkheim. Das rotgoldene Abendlicht ließ die Stadtgrenzen und Entfernungen einzelner Gebäude zu einer glühenden Masse verschmelzen. Sabine berichtete in wenigen Sätzen über das Ehepaar Finke und sah dann den Psychologen erwartungsvoll an.
»Weshalb die Freilassung?«, erkundigte sich dieser unvermittelt und so direkt, dass Sabine erst einmal nachdenken musste.
»Nun ja, es fehlt an Beweisen. Und, unter uns gesagt, ich halte Frau Finke auch nicht für eine Erpresserin.«
»Für eine Mörderin schon?«
»Das habe ich nicht gesagt.« Sie verschränkte die Arme und ergänzte mit einem grimmigen Gesichtsausdruck: »Analysieren Sie bitte nicht mich, okay?«
»Ich frage nur nach«, lächelte Leydt gänzlich unbeeindruckt.
»Sind der Mörder und der Erpresser denn nicht ein und dieselbe Person?«
»Das kann ich nicht beantworten«, wehrte er mit erhobenen Händen ab, »aber es scheint, als ginge jeder davon aus.«
»Was ist denn Ihre Meinung?«, bohrte Sabine nach. »Mal ganz essentiell: Ist es ein Mann oder eine Frau?«
»Ich lege mich ungern auf Entweder-oder-Antworten fest. Darf ich anders ansetzen?«
Die Kommissarin nickte, und Leydt räusperte sich.
»Paracelsus ist eine historische Person, ein Heiler, dessen Reputation gemeinhin makellos ist. Dass sich eine Frau hinter männlichem Pseudonym verbirgt, wäre denkbar, ebenso die technischen Fähigkeiten, die für das Ganze bisher vonnöten waren. Doch rein statistisch betrachtet, und das ist der entscheidende Faktor für mich, spricht mehr dafür, dass es sich um einen Mann handelt.«
»Statistik, wie?«, brummte Sabine missbilligend. Sie verabscheute Zahlen, höhere Mathematik im Allgemeinen sowie alles, was mit Wahrscheinlichkeiten zu tun hatte. Die zahlreichen Therapeuten ihrer Mutter hatten verschiedenste Zahlen zu Rate gezogen, um damit zu rechtfertigen, wie unberechenbar psychotische Schübe seien.
Dann brauche ich auch keine Statistik,
war ihr Standpunkt, denn Ungewissheit war das Einzige, was bei Hedwig Kaufmanns Erkrankung gewiss war. Michael Schreck, immerhin Computerforensiker und daher von Berufs wegen mit Zahlen verheiratet, hatte vergeblich versucht, seiner Freundin diese Abneigung zu nehmen. Doch bis dato ohne Erfolg. Sabine Kaufmann glaubte nicht an die Macht der Wahrscheinlichkeit, und wenn überhaupt, dann nur an die Kriminalstatistik. Diese stieg in der Regel, manchmal stieg auch die Aufklärungsquote, aber unterm Strich blieben die Zahlen auch hier das Wesentliche schuldig: Die Tiefe der menschlichen Abgründe ließ sich nicht damit ausdrücken. Nicht annähernd. Wenn sie eines in ihrem Job gelernt hatte, dann das.
»Statistik ist ein wesentlicher Bestandteil der Psychologie«, erwiderte Leydt achselzuckend. »Je mehr Faktoren wir aneinanderreihen, die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass es sich um einen Mann handelt, desto sicherer können wir davon ausgehen. Eines der schwerwiegendsten Argumente ist hierbei der statistische Anteil von Frauen bei materieller Erpressung. Ich gehe von einem Mann Anfang dreißig bis Ende vierzig aus, der über grundlegende biochemische Kenntnisse verfügt.«
»Das grenzt den Personenkreis nicht wirklich ein.«
»Tut mir leid, früher war das einfacher.« Leydt seufzte. »Google macht aus fast jedem einen Möchtegern-Experten, der es darauf anlegt.«
»Hm. Worauf basiert Ihre Alterseinschätzung?«
»Kriminalstatistik«, grinste er schief, »sorry. Er ist auf eine gewisse Weise unbeholfen, aber andererseits auch abgebrüht. Daher klammere ich jugendliche und junge Erwachsene aus. Außerdem verwendet er diesen archetypischen Spruch der alten Schulmilch-Werbung. Und er scheint Dagobert zu kennen.«
»Den Kaufhaus-Erpresser.«
»Präzise. Natürlich sind die Fälle nicht miteinander zu vergleichen, aber er schickt uns Gedichte und macht aus dem Ganzen eine Art Spiel. Das geht über normale, emotionslose Habgier hinaus.« Leydt pausierte kurz, dann fiel ihm noch etwas ein: »Na ja, und die Altersobergrenze ziehe ich bei fünfzig wegen der Computerkenntnisse. Das ist übrigens auch eine Limitierung, die im Laufe der Jahre immer mehr verschwimmen wird.«
»Ich sag’s ja, die Statistik taugt auf Dauer nicht«, feixte Sabine. »Sie sagten eben, er spiele ein Spiel mit uns.«
»Nein, nicht ganz. Er spielt, buhlt um Aufmerksamkeit, macht sich wichtig, aber es sind nicht die Ermittler, mit denen er spielt. Das unterscheidet ihn essentiell von Dagobert.«
»Also spielt er mit seinem Opfer. Mit
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