Gilde der Jäger: Engelsblut (German Edition)
erkennen und auszunutzen. Das war nötig gewesen, um im Kader zu überleben. Doch er kannte auch Dmitri seit fast tausend Jahren und wusste, was Freundschaft bedeutete. »Aber du hast es nicht getan, Elias. Und das zählt. Da verläuft die Grenze. Du hast sie nicht übertreten .«
Elias sagte längere Zeit nichts, das Wasser floss mit heiterer Geduld über Kies und Felsen dahin, während sie still am Ufer standen. Am anderen Ufer wiegten sich die Äste der Weide mit sanftem Schwung, mitgezogen von der Strömung des Wassers. Doch die Vögel waren verstummt, und plötzlich hatte sich die Welt verdunkelt.
»Wenn sie dazu schon im Schlaf fähig ist, Raphael « , sagte Elias schließlich, »was wird sie dann erst tun, wenn sie aufgewacht ist ?«
Als sie nach dem Training mit Illium – jede einzelne der Übungen war darauf angelegt gewesen, sie für den Senkrechtstart zu stählen – geduscht und sich umgezogen hatte, ging Elena in die Bibliothek, wo Montgomery ein kleines Abendessen bereitgestellt hatte. Abrupt blieb sie in der Tür stehen. »Aodhan .« Er stand nahe am Fenster und blickte hinaus in den Sturm, der Manhattan wieder einmal heimsuchte. Die Dunkelheit vor ihm brachte seinen strahlenden Glanz besonders gut zur Geltung.
Aodhan würde sich nie irgendwo einfügen, nicht unter himmlischen Wesen und gewiss nicht in die Welt der Sterblichen. Seine Augen sahen aus, als wären die Pupillen von Scherben in lebhaftem Grün und durchscheinendem Blau umgeben. Seine Flügel waren prismenartige Lichtblitze, sein Haar glitzernde, diamantverkrustete Stränge. Insgesamt hätte er wirken müssen wie ein klirrend kaltes Wesen aus Marmor und Eis, doch seine Haut hatte einen leicht goldenen Ton, der warm und freundlich war.
»Elena .« Er neigte leicht den Kopf. Seine Stimme war ihr noch ungewohnt, da sie sie nur selten hörte.
»Raphael müsste bald hier sein .« Sie trat zum Tisch und goss sich eine dampfende Tasse Kaffee ein – von Wein wäre sie nach diesem Training einfach eingeschlafen. »Er ist vor zehn Minuten aus Atlanta zurückgekehrt .« Aus dem Territorium eines Engels, vor dem Elena sich auch gegruselt hätte, wenn Ashwini sie nicht vor ihrer ersten Begegnung mit ihm vor ihm gewarnt hätte. Schreie, hatte Ash über Nazarachs Haus gesagt, die Wände stecken voller Schreie.
Aodhan sagte nichts, drehte sich nur um und blickte wieder in die regennasse Dunkelheit hinaus. Sie wusste, dass es Absicht war, dass er so entrückt wirkte. Der Engel faszinierte sie. Er erinnerte sie an ein großes Kunstwerk, etwas, das man bewundert, ohne es wirklich zu verstehen. Nur … hatte es mit ihm noch etwas anderes auf sich. Schmerz, Leid und eine Verletzung, aufgrund derer er sich in sich selbst zurückgezogen hatte wie ein schwer verwundetes Tier.
Elena kannte keine Einzelheiten über das, was ihm angetan worden war, doch sie wusste, wie es war, so schlimm verletzt zu werden. Sie stellte ihren Kaffee ab und goss ein Glas Wein ein. »Aodhan .«
Er kam zu ihr und nahm das Weinglas entgegen, die Flügel eng an den Rücken angelegt. »Danke .«
»Gern geschehen .« Darauf bedacht, ihn nicht zu berühren, zog sie sich einen Stuhl an den Tisch und fing an, sich ein Sandwich zu belegen. Montgomery würde sicherlich entsetzt darüber sein, wie sie mit den Gerichten auf dem Tisch umging, doch ein gutes, herzhaftes Sandwich erschien ihr im Moment einfach das Richtige zu sein. Sie bereitete auch eines für Raphael zu, nur um seinen Gesichtsausdruck zu sehen.
Nach einer kurzen Stille setzte sich Aodhan auf einen Stuhl ihr gegenüber, wobei er die Flügel anmutig über die für Engel gemachte Lehne drapierte. Er aß nicht, doch er trank den Wein, und als sie aufsah, bemerkte sie, dass der Blick aus seinen seltsamen, wunderschönen Augen auf ihr ruhte.
»Sie sind ein Künstler « , sagte sie, während sie sich fragte, was er wohl sehen mochte. »Ist Ihnen meine Vase in der Eingangshalle aufgefallen ?«
Ein Funken von Interesse. »Ja .«
Sie schluckte einen Bissen hinunter, bevor sie mit ausdruckslosem Gesicht sagte: »Sie können sie nicht haben. Montgomery würde sie doch nur wieder zurückholen .«
AodhanneigteseinenKopfeinwenigzurSeite,alsversuchteer,ihreWortezubegreifen.Dochersagtenichts,undsiebeschloss,ihnnichtweiteraufzuziehen.ErwarnichtIllium,dermitirgendeinerkleinenBoshaftigkeitzurückschießenwürde.MitAodhanmusstemanvorsichtigerumgehen –
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