Gilgamesch - Der Untergang
Quetzalcoatls Plan ging nicht auf. Damit war die Geschichte des Kreuzes wieder völlig offen. Es spielt für die Saturnbrüder eine Schlüsselrolle an diesem einundzwanzigsten Dezember. Warum aber und wie?“, fragte er und blickte zu Herbert auf.
„Wir haben ihnen die Blutreliquie vom Odilienberg beschafft. Kann die Kombination aus den beiden Gegenständen noch etwas ganz anderes bewirken als das, was Adeodatus widerfuhr?“
Herbert schüttelte den Kopf.
„Weißt Du, wenn uns einer unserer Kollegen so reden hörte, der würde uns für komplett übergeschnappt halten“.
„Herbert, sei mal ehrlich. Du glaubst doch inzwischen auch, dass sich hinter diesen historischen Puzzlesteinchen mehr als lediglich eine abenteuerliche Kriminalgeschichte verbirgt“. Christopher sah ihn herausfordernd an.
Herbert winkte müde ab. „Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll“.
„Lass uns die Gedanken weiterspinnen“, fuhr Christopher fort, „die Legenda Aurea, die immerhin eines der meistgelesenen Bücher des Mittelalters war, entwirft ein Bild des Kreuzes, das nicht mit der späteren Verehrung zusammenpasst. Es ist Holz vom Baum der Erkenntnis, von jenem Baum, in dem bekanntlich die Schlange wohnte. Der Uroboros , die sich in den Schwanz beißende Schlange, wird beginnend bei den Ägyptern ein Sinnbild für die Zeit. Es ist ein ambivalentes Symbol, ähnlich dem Wesen der Schlange. Der geschlossene Kreis täuscht Ewigkeit vor, ist aber doch nur ein ewig wiederkehrender Anfang. Die Schlange beißt sich in den Schwanz und frisst sich selbst. Ihre Häutung ist Sinnbild der dauernden Erneuerung, die ihr die Macht verleiht ewig zu leben und gleichzeitig grausame Strafe bedeutet, ewig leben zu müssen. Der Uroboros war das Symbol des Äons, das in einer Katastrophe endete, die alles auslöschte, damit ein neuer Äon beginnen konnte“.
„Könnte das Symbol der gefiederten Schlange eine ähnlich ambivalente Bedeutung haben?“, fragte Herbert einer Eingebung folgend.
„Warum nicht. Eine Legende Mittelamerikas erzählt von einer gefiederten Schlange, die es satthatte, nur im Staub zu kriechen. Deshalb erhob sie sich eines Tages stolz in die Lüfte und flog immer höher, bis die Sonne ihre Federn verbrannte. Sie stürzte zu Boden und noch heute sind ihre verbrannten Federn die Schuppen, die sie bedecken. Sie war von da an dazu verdammt, für immer den Staub des Erdbodens zu fressen, als Buße für ihre Überheblichkeit. Die engelsgleiche, gefiederte Schlange und der staubfressende, giftige Schuppenwurm sind ein und dasselbe Wesen. Ikarus strebt nach Erkenntnis und fällt, Adam und Eva streben nach Erkenntnis und fallen, der Engel strebt nach Erkenntnis, schleudert Gott sein Non serviam entgegen und fällt.
Der uns so selbstverständliche Gut-Böse-Dualismus rückt erst mit Thomas von Aquin und seinem geliebten Aristoteles in den Fokus der kirchlichen Scholastik. Gut und Böse sind aber eins, sie treffen sich in Wahrheit in einer Person. Vielleicht wird aus dem, der mit aller Gewalt das Gute will, der leibhaftige Satan“.
„Ich glaube, ich kann Dir nicht folgen“, erwiderte Herbert verwirrt.
„Ich will damit sagen, dass Quetzalcoatl die Welt retten wollte, vielleicht aber damit die Katastrophe in Gang gesetzt hat. Der Eingriff in den Lauf der Zeit war ihnen verboten. Dennoch hat er in diesem einen Fall eine Ausnahme gemacht. Jesus wollte die Welt retten, hat aber der Schlange zum Sieg verholfen, die fortan die dominierende Kraft im Zeitalter der Fische wurde. Die Hüter der Zeit sind diejenigen, die den Sand in das Getriebe streuen und damit das Ende heraufbeschwören. Die Guten öffnen den Schlangenkäfig. Eine furchtbare Ironie ihres Schicksals. Vielleicht haben sie es in der Stunde ihres Todes erkannt. Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen . Verstehst Du jetzt, was ich meine?“
Herbert blickte immer noch ratlos drein.
Christopher war schon wieder in Gedanken versunken.
„Mir kommt da noch eine Idee. Was würde passieren, wenn sie den zeitlosen Raum, in dem sie leben, in unsere Wirklichkeit öffneten? Uns erscheint das Zusammentreffen mehrerer voneinander unabhängiger Katastrophen zum selben Zeitpunkt unwahrscheinlich. Es liegt daran, dass unser Zeitbegriff ein von der Vergangenheit in die Zukunft gerichteter Vektor ist. Dann erhält jedes Ereignis seinen eigenen Zeitpunkt und folglich gibt es gar keine Gleichzeitigkeit. Was aber, wenn sie eine Türe zu ihrem zeitlosen Raum aufstoßen? Dort ist
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