Giselles Geheimnis
Position zu bringen, auf Kinder verzichten zu müssen. Und das Vergnügen, das sexuelle Freizügigkeit angeblich mit sich brachte, war nichts für sie. Selbst wenn es nicht gegen ihr eigenes Wesen ginge, hätte die Erziehung der Großtante sie sicherlich davon abgebracht.
Bis jetzt – bis zu Stefano Parenti – hatte sie in der Überzeugung gelebt, ihre Sexualität im Griff zu haben. Niemals hätte sie gedacht, einmal Gefahr zu laufen, die eigenen Regeln wegen des Verlangens nach einem Mann zu brechen.
Und doch hatte sie es heute getan.
Diese wenigen Augenblicke in Stefanos Umarmung hatten alles geändert. Alle ihre Sinne hatten sich nach seinem Kuss und seiner Berührung gesehnt. Der Geist war der Flasche entwichen, womit sie niemals gerechnet hätte, und jetzt musste sie irgendwie damit umgehen.
Wie war es möglich, dass ausgerechnet sie eine so unkontrollierbare Flut körperlichen Verlangens nach einem Mann verspürte, den sie absolut unsympathisch fand? Es widersprach allem, was sie von sich kannte, hatte nichts mit der Person gemein, für die sie sich hielt.
In ihrem Kopf stiegen wieder die Bilder auf: das kleine Trio – die Mutter, gereizt und ungeduldig, das Baby – das brave Kind –, friedlich schlafend im Kinderwagen, und sie – das ungehorsame Kind –, das die Anordnung der Mutter ignorierte und stattdessen den eigenen Wünschen und Impulsen nachgab. Als Resultat waren zwei Menschen des Trios nun tot, während sie, die Dritte, noch lebte.
Seither hatte sie unaufhörlich daran gearbeitet, „brav“ zu sein, um Wiedergutmachung zu leisten. Doch jetzt war sie Stefanos wegen gezwungen, sich einzugestehen, dass die widerspenstige und eigensinnige Seite an ihr keineswegs gezähmt war. Stefanos Kuss hatte den Schleier der Selbsttäuschung zerrissen, mit der sie bisher gelebt hatte, und hatte ihr die rohe Wahrheit des körperlichen Verlangens gezeigt.
Wie war es ihr bisher gelungen, sich so kontrolliert und beherrscht zu geben? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur, dass der Versuch, dieses Verlangen zu unterdrücken, unnütz wäre. Ebenso unnütz, als wollte man versuchen, eine Flutwelle aufzuhalten. Es hatte sich mit weiß glühender Hitze in ihre Sinne eingebrannt. Vielleicht war das ja ihre Strafe für die Geschehnisse in der Vergangenheit, der Preis, den sie für das, was sie getan hatte, zahlen musste – von einer Sehnsucht gequält zu werden, die niemals gestillt werden würde.
Sie wusste nicht, warum sie körperliches Verlangen nach einem Mann verspürte, den sie nicht mochte und der sie ebenso wenig mochte, sie wusste nur, dass Stefano niemals von ihrer Schwäche erfahren durfte. Er durfte nie erfahren, dass sie ihn begehrte und wie mächtig dieses Begehren nach ihm war. Das Erniedrigendste daran war, dass sie dieses Gefühl ausschließlich und allein für ihn empfand.
Wie Liebe.
Das verräterische Wort schlich sich in ihre Gedanken, um sofort wild abgestritten zu werden. Nein! Was sie für Stefano fühlte, hatte nichts mit Liebe zu tun. Es war rein physisch, mehr nicht!
Ihr einziger Trost war, dass er sie nicht mit diesem irrationalen, überwältigenden Verlangen begehrte. Denn würde er es, dann … Aber nein, an so etwas durfte sie nicht einmal denken.
Ihre Augen brannten vor Müdigkeit. Giselle ermahnte sich, dass sie wenigstens ein paar Stunden Schlaf brauchte. Inzwischen war es weit nach drei, und um neun musste sie an ihrem Schreibtisch sitzen – oder die Konsequenzen für ihren Stolz riskieren. Und sich einen Tag freizunehmen, weil sie es nicht ertrug, Stefano gegenüberzutreten … das war eine Option, die sie sich nicht erlauben würde.
Grübelnd stand Stefano am Fenster seines Büros und sah, wie Giselle das Firmengebäude betrat. Er hätte sie nicht küssen dürfen. Dieser Kuss verstieß gegen seine Prinzipien, niemals irgendwelche Intimitäten mit jemandem zu tauschen, der für ihn arbeitete. Noch quälender war das Wissen, dass er die Grenzen seiner eigenen emotionellen Barrieren überschritten hatte. Und warum stand er dann hier und riss das Loch, das Giselle in seine Mauer geschlagen hatte, noch weiter auf, indem er den Augenblick immer wieder vor sich abspielen ließ, wenn er doch an viel wichtigere Dinge zu denken hatte?
Weil er es genau überdenken musste, um mit einer Strategie aufwarten zu können, wie er damit umzugehen hatte.
Mit einem Ruck drehte Stefano sich um und marschierte mit entschiedenen Schritten aus seinem Büro.
Giselle eilte zu ihrem Zimmer,
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