GK0061 - Der Gnom mit den Krallenhänden
nahm ihr Schulfranzösisch zusammen und sagte, daß sie spazierengehen wolle.
Die Frau schüttelte den Kopf, doch dann zuckte sie mit den Schultern und verschwand wieder in der Gaststube.
Kitty atmete auf.
Sie ging nach draußen. Der Nieselregen, vom Wind getrieben, traf sie schräg ins Gesicht. Zum Glück hatte Kitty ihren Trenchcoat übergezogen. Sie stellte den Kragen hoch und lief los.
Auf dem Marktplatz befanden sich kaum Menschen. Kitty erreichte ungestört die Straße, die zum Dorfausgang führte.
Bald hatte sie den kleinen Ort hinter sich gelassen. Mutterseelenallein ging Kitty über die einsame Straße. Eine innere Stimme trieb sie unaufhaltsam voran. Kitty kannte den Weg zur Mühle nicht, und trotzdem war es ihr, als wäre sie diese Strecke schon oft gegangen.
Der Weg machte eine Kurve und führte an einem Waldstück vorbei. Die hohen Wipfel der Bäume rauschten im Wind.
Kitty Jones ging zügig weiter. Wie auf geheimen Befehl verließ sie die Straße und bog auf einen schmalen Feldweg ein.
Das Gelände wurde hügelig.
Nach weiteren zehn Minuten, als der Feldweg wieder einen kleinen Hang hinaufführte, hatte Kitty die Mühle erreicht.
Groß und wuchtig stand sie vor ihren Augen. Sie war schwarz angestrichen und wirkte in dem Halbdunkel noch unheimlicher als bei Tage.
Langsam ging Kitty weiter. Der Weg wurde breiter und mündete in einen kleinen mit Unkraut übersäten Platz.
Kitty blieb stehen. Direkt vor einem der großen Mühlenflügel, der unbeweglich in der rauhen Luft stand.
Dann sah Kitty die Eingangstür. Sie war ziemlich groß und lief nach oben hin spitz zu.
Zögernd setzte das Mädchen einen Fuß vor.
Im gleichen Augenblick öffnete sich wie von Geisterhand bewegt die Tür der Mühle.
Eine dunkle Öffnung gähnte Kitty entgegen.
Plötzlich bekam das Mädchen Angst. Sie wollte sich herumwerfen, zurücklaufen, doch Marions Stimme nagelte sie auf der Stelle fest.
»Komm, Kitty. Komm zu mir.«
Und Kitty gehorchte. Gegen ihren Willen. Vergessen war das Angstgefühl, vergessen waren auch John Sinclairs Ratschläge, für sie gab es nur noch die Stimme ihrer Freundin Marion.
Kitty hatte die Tür erreicht.
Noch zögerte sie.
Und plötzlich sah sie Marion. Sie hatte beide Hände erhoben, schwebte ein Stück über dem Boden und lockte Kitty mit samtweichen, flüsternden Worten.
Kitty Jones folgte der Versuchung. Sie ging zögernd in die gähnende Öffnung und verschwand im Dunkel der unheimlichen Mühle. »Marion?« rief sie.
Keine Antwort. Marion Nelson war verschwunden.
Langsam gewöhnten sich Kittys Augen an die herrschenden Lichtverhältnisse. Sie konnte einige Umrisse erkennen – und sah vor sich plötzlich eine huschende Bewegung.
Ein irres Kichern ließ sie erstarren. Kitty schrie auf.
Sie hatte Cascabel, den Gnom, erkannt.
Der Bucklige trat vor sie hin. Nur undeutlich sah sie seine Gestalt. Doch dafür drangen wie Hammerschläge die Worte des Gnoms in ihr Gehirn.
»Du hattest gedacht, schlauer als der große Sourette sein zu können, doch du hast dich geirrt. Um Mitternacht wirst du dem großen Sourette geopfert. Du wirst…«
Der Gnom sprach weiter, doch Kitty hörte seine Worte nicht mehr. Flieh! schrie es in ihr. Flieh von diesem schrecklichen Ort.
Sie nahm alle Kraft zusammen, wollte sich herumwerfen.
Zu spät!
Einem Schemen gleich war Cascabel an ihr vorbeigehuscht und hatte die Tür von außen zugeknallt.
Zwei, drei Herzschläge lang stand Kitty unbeweglich. Dann sprang sie zu der Tür, fand die schwere Klinke, drückte sie nach unten.
Die Tür war abgeschlossen.
Und von draußen hörte sie das Kichern des Verwachsenen.
»Bis Mitternacht. Denk daran, bis Mitternacht, dann wird auch dich der große Sourette holen.«
Ein teuflisches Lachen begleitete die Worte des Gnoms.
In ihrer sinnlosen Panik schlug Kitty gegen die Tür. Die Schläge hallten hohl durch die alte Mühle.
Mehr erreichte das Mädchen nicht. Die Tür hielt Kittys verzweifelten Befreiungsversuchen stand.
Weinend sackte Kitty vor der Tür zusammen. Alle Vorwürfe kamen zu spät.
Sie war gefangen.
Gefangen in der Teufelsmühle!
***
»Gendarmerie« stand auf dem verkratzten Messingschild. John Sinclair blieb vor dem Haus stehen und betrachtete prüfend die Fassade.
Unten befand sich die Polizeistation. Die drei Fenster, die zur Straße zeigten, bestanden zur Hälfte aus Milchglas. Hinter den Fenstern brannte Licht.
Oben schien die Privatwohnung des Gendarms zu sein. Hinter den Scheiben
Weitere Kostenlose Bücher