GK0202 - Der Fluch der schwarzen Hand
Dunkle Ränder umschatteten die Augen, und die Falten hatten sich noch tiefer in ihre Haut gegraben.
Lady Parson trat ans Fenster. Beide Hände legte sie gegen die Scheibe und starrte hinaus in die Dunkelheit des großen Parks, der das Haus umgab.
Der Nachtwind rauschte durch die Büsche. Er pfiff um Erker und kleinere Mauervorsprünge und fing sich an der alten, schon morsch gewordenen Dachrinne.
Lady Parsons Atem schlug gegen die Scheibe. Sie beschlug in Höhe der Lippen.
Immer wieder sah die Lady hinaus in den Park. Sie hatte plötzlich das Gefühl, daß Ritchie noch in dieser Nacht kommen würde, ja kommen mußte.
Dorothy Parson merkte, daß sie innerlich erregt war. Ihr Herz klopfte stärker, das Blut rauschte kräftiger durch die Adern.
Die Sehnsucht nach Ritchie wuchs.
»Komm«, flüsterte Lady Parson. »Komm doch endlich. Ich brauche dich so. Laß mich nicht allein, Ritchie. Zeige es ihnen. Zeige ihnen, daß du stärker bist…«
Plötzlich verstummte die Frau.
Ihre Augen wurden noch größer.
Im Park – dort hatte sich etwas bewegt. Sie hatte es genau gesehen. Unter der alten Ulme.
»Ritchie!« Ihre Lippen formten das Wort.
Da sah sie es wieder.
Es war ein heller Fleck, der sich jetzt aus der Deckung des Baumstamms löste und auf das Haus zukam, direkt auf Lady Parsons Fenster zu.
Das Herz der Frau machte einen raschen Sprung. Kein Zweifel, das war Ritchie.
Und er kam zu ihr.
Jetzt winkte er sogar, mit der linken, völlig normalen Hand. Er mußte seine Mutter gesehen haben.
Eine nie gekannte Erregung hatte Dorothy Parson gepackt. In wenigen Minuten würde sie ihrem toten Sohn gegenüberstehen. Und dann – dann war alles wieder so wie früher.
Sie löste sich vom Fenster und stürzte auf die Tür zu. Hastig schloß sie auf und lief auf den Gang. An allen Gliedern bebend und mit klopfendem Herzen lief sie die Treppe hinunter nach unten in die große Halle.
Lady Parson hatte kein Licht gemacht. Niemand sollte merken, wen sie da mitten in der Nacht empfing.
Hastig schloß sie die Tür auf, lief nach draußen und blieb auf der letzten Treppenstufe stehen.
Der Nachtwind fuhr durch ihre Haare und zerrte an der Kleidung.
»Ritchie«, rief sie.
Lady Parson konnte ihren Sohn nicht sehen. Anscheinend hatte er sich wieder versteckt.
Doch dann hörte sie die Schritte. Ihr Kopf ruckte nach rechts.
Da sah sie Ritchie kommen.
Sie erschrak. Ihr Sohn sah schrecklich aus. Unheimlich bleich war sein Gesicht, das Totenhemd starrte von Schmutz. Ritchies Gang war steif und staksig.
Jetzt nahm er die Stufen. Vor seiner Mutter blieb er stehen.
»Da bin ich«, sagte er mit tonloser Stimme. Er streckte seine rechte Hand aus.
Die schwarze Hand.
Lady Parson zögerte, die Hand zu umfassen. Sie war zu einer regelrechten Klaue geworden, die Finger standen auseinander.
Zögernd griff Dorothy Parson nach der Hand ihres Sohnes. Sie fühlte sich kalt an, war ohne Leben.
Ritchie ließ die Hand seiner Mutter nicht los. »Laß uns ins Haus gehen«, sagte er.
Dorothy Parson nickte bloß. Ritchie ging an seiner Mutter vorbei und zog sie mit in die Halle. Er ließ dabei die Hand nicht los, und Dorothy Parson kam sich plötzlich vor wie eine Gefangene.
Ritchie schloß die Tür, lehnte sich dagegen und ließ seine Mutter los.
Dorothy Parson konnte nicht vermeiden, daß sie zitterte. »Was – was hast du jetzt vor?« fragte sie mit leiser Stimme.
Der lebende Tote hob die rechte Hand.
»Ich will ihn töten!«
»Wen? Vater?«
Ritchie nickte und schlug die Mörderhand ruckartig nach unten.
***
Sekundenlang stand das Schweigen zwischen Mutter und Sohn wie eine Wand. Dann faßte sich Lady Parson ein Herz und fragte: »Wann willst du ihn töten?«
»Morgen!«
»Und dann?«
»Werde ich Satans Aufgaben erfüllen.« Ritchie lachte. »Der Teufel ist mein Vater. Schon in den alten Prophezeiungen stand, daß irgendwann ein Kind des Satans geboren würde. Ich bin das Kind. Und du bist meine Mutter. Die schwarze Hand ist das Zeichen einer neuen Epoche. Ich habe sie gegen meinen Ziehvater erhoben, und aus diesem Grund ist sie zu einer tödlichen Waffe geworden.«
Lady Parson konnte die Worte kaum begreifen, die sie aus dem Munde ihres Sohnes hörte. War das überhaupt noch ihr zwölfjähriger Sohn? Es fiel ihr schwer, dies zu glauben. Denn so wie Ritchie redete, so sprach kein Zwölfjähriger.
»Du willst bei mir bleiben?« erkundigte sich die Lady.
»Ja.«
»Und wo?«
»Für mich ist das Licht des Tages schädlich.
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