GK078 - Das Todeslied des Werwolfs
erlebt, in was für einer Verfassung er heute Nachmittag war. Kann sein, dass er nun durch die Straßen irrt und nicht nach Hause findet.«
»Kann aber auch sein, dass er aus einem anderen Grund durch die Straßen irrt!«, gab ich zurück, und ich bemerkte, wie Vicky fröstelte.
»Willst du hier auf ihn warten?«
»Hat wohl wenig Zweck. Wer weiß, wann der nach Hause kommt.«
»Dann fahren wir also heim?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Noch nicht. Ich habe da so eine Idee.«
»Sei lieb und behalte sie nicht für dich«, bat Vicky.
»Okay. Also ich denke an den kleinen alten Nachtwächter.«
»An Mr. Brisson? Warum?«
»Er hat den Werwolf aus nächster Nähe gesehen.«
»Ja. Und er hat ihn ganz genau beschrieben«, sagte Vicky.
»Er hat die Pranken und den Wolfskopf beschrieben, das stimmt…«
»Mehr hat ein Werwolf doch nicht zu bieten«, sagte Vicky.
»Doch!«, erwiderte ich lächelnd. »Doch!«
»Was denn?«
»Seine Kleidung. Du darfst nicht vergessen, er ist ein Mensch. Er kann sich blitzschnell verwandeln, trägt aber dann immer noch die Kleidung, die er als Mensch getragen hat. Hugo Brisson hat diese Kleidung mit keiner Silbe erwähnt.«
Vicky ging ein Licht auf.
»Ach, und du meinst, wenn du weißt, wie der Werwolf angezogen war, weißt du auch, wie er als Mensch aussieht.«
»Kluges Mädchen!«, lobte ich Vicky. Dann setzten wir uns wieder in den Wagen und fuhren zu jener Baustelle, die Hugo Brisson zu bewachen hatte.
Zu unserem Erstaunen fanden wir da einen Ersatzmann vor.
»Den Brisson wollten Sie besuchen?«, fragte der hagere Mann mit dem dicken Glas im Hornbrillenrahmen.
»Ja«, sagte ich.
»Der Brisson ist nicht da.«
»Wo ist der Brisson denn?«, fragte ich in seiner Sprache.
»Der Brisson ist zu Hause. Hat um einen Tag Urlaub gebeten.« Der Hagere lachte. »Eigentlich müsste ich ja sagen, er hat um eine Nacht Urlaub gebeten. Hat den Urlaub bewilligt gekriegt. Immerhin war doch diese Sache… Na ja. Wer will darüber schon reden.«
Wieder verfrachteten wir uns in den Wagen. Diesmal steuerte ich Hugo Brissons Wohnadresse an.
Es war bereits zweiundzwanzig Uhr, als wir nahe dem Haus, in dem Brisson wohnte, aus dem Wagen kletterten.
»Eigentlich macht man um diese Zeit keinen Besuch mehr«, meinte Vicky.
»Ich bitte dich. Brisson ist immerhin Nachtwächter. Ich gehe jede Wette ein, dass er noch nicht zu Bett gegangen ist.«
Wir betraten das Haus.
Plötzlich gerann uns das Blut in den Adern. Wir hörten den markerschütternden Schrei eines Mannes. Ich dachte sofort an Brisson, jagte los, erreichte die Tür, warf mich dagegen sie, flog zur Seite, da sah ich ihn.
Es war meine erste Begegnung mit dem Werwolf!
***
Brisson lebte noch.
Blutüberströmt lag er auf dem Boden. Er röchelte qualvoll, war kaum noch wiederzuerkennen. Ich wusste sofort, dass ihm nicht mehr zu helfen war.
Breitbeinig stand der abscheuliche Werwolf vor ihm. Blitzschnell schlug er mit seinen Krallen nach dem zuckenden Opfer. Das Untier zerfleischte den Nachtwächter vor meinen Augen.
Vicky kam herbei.
»Bleib zurück!«, schrie ich sie an. Dann stürmte ich mit brennenden Schläfen in Brissons kleine Wohnung. Etwas zwang mich, auf das Scheusal loszugehen. Ich musste es tun, obgleich ich fühlte, dass ich dieser Bestie in jeder Hinsicht unterlegen war.
Der Anblick des Nachtwächters drehte mir den Magen um.
Wut und Hass trieben mich auf den gefährlichen Werwolf zu.
»Weg da!«, brüllte ich. »Weg!«
Das Monster kreiselte fauchend herum. Ich starrte in die flammenden Augen, in denen das gnadenlose Feuer der Hölle loderte!
Das Scheusal bleckte die kräftigen Raubtierzähne. Um die Schnauze herum klebte das Blut des Opfers. Auch an den scharfen Krallen klebte Brissons Blut.
Ein letztes Röcheln kam aus der Kehle des Nachtwächters. Dann hatte er ausgelitten.
Wahnsinniger Zorn übermannte mich.
Der Werwolf wollte meinen Ansturm mit einem wütenden Gebrüll stoppen, doch ich reagierte nicht darauf. Ich hatte geistig total abgeschaltet. Mir war nur bewusst, dass ich mir nichts so sehr gewünscht hatte, als so bald wie möglich diesem Monster gegenüberzustehen.
Dieser Wunsch hatte sich erfüllt.
Hier war der Werwolf.
Ich wusste nur noch eines: dass ich ihn töten musste.
***
Vicky blieb nicht draußen. Sie war so unvernünftig, gleich hinter mir in die Wohnung des Nachtwächters zu stürmen.
Als sie den Leichnam sah, wandte sie sich mit einem krächzenden Schrei ab.
Der Werwolf stieß ein
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