GK266 - Die weiße Göttin
Sekunde, dann würde Vickys greller Schrei jäh abreißen, und dann… dann hatte ich sie für immer verloren. Mein Magen revoltierte bei diesem furchtbaren Gedanken.
Plötzlich – mitten in dieses entsetzliche Grauen hinein – schwirrte ein in den Ohren schmerzendes Schrillen über den Sumpf. Ich erstarrte. Der unangenehme Laut nahm zu.
Mit ihm konnte man gewiß den normalsten Menschen verrückt machen. Man brauchte diesem fürchterlichen Laut nur lange genug ausgesetzt zu sein, dann verlor man garantiert den Verstand.
Ich sah, wie die Kaimane darauf reagierten.
Sie wirbelten herum. Ihre Schuppenschwänze peitschten wütend über den Boden. Auch sie schienen unter diesem schrillen Ton zu leiden. Vickys Gesicht war genauso schmerzverzerrt wie das meine.
Ich versuchte mich aufzurichten und in die Richtung zu blicken, aus der der furchtbare Ton kam. Dort, am anderen Ende des Moors, flimmerte die Luft. Die Kaimane knurrten und fauchten.
Sie fühlten sich offenbar von dieser Erscheinung bedroht.
Ich konnte nichts Genaues sehen. Für mich spielte sich alles wie hinter zehn durchsichtigen Vorhängen ab. Alles war auf eigenartige Weise verschwommen. Und immer noch peinigte uns alle dieses furchtbare Schrillen.
Die Kaimane griffen den Fremden an.
Ich sah, wie die Gestalt, die sich hinter diesen vielen Vorhängen befand, ausholte. Dann rollte etwas Graues über die Oberfläche des Moors. Es kugelte auf die vier Kaimane zu und sprang gleich darauf in deren weit aufgerissenes Maul.
Und dann passierte etwas, das ich in meinen kühnsten Träumen nicht zu hoffen gewagt hatte. Ich bin zwar ein unverbesserlicher Optimist, aber vor wenigen Augenblicken noch hätte ich für unser Leben keinen Pfifferling mehr gegeben.
Und nun das!
Jene grauen Kugeln hatten die Wirkung von scharfgemachten Handgranaten. Es gab einen dumpfen Knall, und die Schuppenbestien wurden vor unseren weit aufgerissenen Augen aufgelöst.
Das Schrillen war schlagartig zu Ende. Die Luft flimmerte nicht mehr. Wir waren allein. Mir rann der Schweiß übers Gesicht. Ich hörte Vicky leise neben mir schluchzen.
Und Mr. Silver sagte beeindruckt: »Da hat uns jemand im allerletzten Augenblick das Leben gerettet.«
Das war mir klar.
Ich hätte gern gewußt, wer sich vorhin auf unsere Seite geschlagen hatte, um ihm meinen Dank auszusprechen, aber unser Lebensretter zog es vor, anonym zu bleiben.
Wir mußten diesen seinen Wunsch respektieren.
***
Wir nahmen an, daß die Kaiman-Bande damit noch nicht vernichtet war. Sie bestand gewiß nicht nur aus vier Mitgliedern. Birunga, ihr Anführer, war zur Hölle gefahren. Aber er hatte auf Erden sicherlich einen Stellvertreter, der bald schon seinen Platz einnehmen würde.
Deshalb war es angeraten, den Schlupfwinkel der Bande so schnell wie möglich zu verlassen.
Seit Birungas Tod hatte das Netz, das Mr. Silver einhüllte, seine magische Kraft verloren. Der Ex-Dämon steckte es mit seinem Feuerblick in Brand und war binnen weniger Augenblicke frei.
Danach widmete er sich Vickys Fesseln, und beide befreiten anschließend mich. Ich erhob mich seufzend und massierte meine schmerzenden Handgelenke. Vicky sank an meine Brust.
»Diesmal dachte ich, es wäre aus, Tony«, flüsterte sie bebend.
»Mir schien auch der Ofen aus zu sein«, gab ich zu. Warum hätte ich meine Freundin belügen sollen?
Mr. Silver winkte ungeduldig. »Kommt. Wir sollten uns hier nicht allzu lange aufhalten!«
Er wies auf einen düsteren Gang. Wir verschwanden darin. Bevor ich in die Dunkelheit eintauchte, schaute ich mich noch einmal um. Es wäre wichtig gewesen, diesen Schlupfwinkel der Kaiman-Bande zu vernichten.
»Weiter, Tony!« rief Mr. Silver gepreßt.
»Gleich«, gab ich zurück. Ich ging in die Hocke, murmelte eine Formel der Weißen Magie und zeichnete mit meinem magischen Ring ein Pentagramm auf den Boden.
Vielleicht war es ein Fehler, das zu tun, aber ich war so sehr davon bestrebt, der Kaiman-Bande zu schaden, daß ich nicht an die Folgen dachte, die mein Handeln eventuell nach sich ziehen konnte.
Als der letzte Strich des Drudenfußes gezogen war, tobte ein Orkan durch die Unterwelt. Er peitschte das Moor, geißelte seine Oberfläche. Braun spritzte die Brühe auf. Sie waberte und schien zu kochen und zu brodeln. Wie ein Brei, der im Topf überkocht, so quoll sie aus der Tiefe herauf.
Der Sumpf füllte innerhalb weniger Augenblicke den Unterschlupf der Kaiman-Bande völlig aus.
Und dann kroch die zähe Masse in den Gang
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