Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
da?« Sie schluckte. Bekam er mit, wie belegt ihre Stimme klang? Bestimmt wollte sie gerade jetzt nicht seine Aufmerksamkeit auf sich lenken, obwohl seine Nähe guttat.
Chris legte seine Finger auf die Notiz und strich unter der Schrift entlang. Seine Lippen bewegten sich, ohne dass er ein Wort aussprach. Seine linke Hand schob sich um ihre Taille.
Camilla zuckte zusammen. Ein prickelndes Gefühl pulsierte durch ihren Körper. Vermutlich bemerkte Chris es nicht einmal, während er die Notizen nacheinander durchlas.
»Das ist seltsam.« Er rieb sich über die Augen.
»Was?«
»Hier steht: Je weiter ich den Prozess vorantreibe, desto teilnahmsloser wird er.« Sein Finger strich an eine andere Stelle. »Olimpia hieß das ihm verlobte Kind, wie er sagt. Aber ihr Bruder spricht in all der Zeit immer nur von einer Clara.« Er sprang zu einer anderen Textpassage, die ebenfalls zusammenhangslos niedergeschrieben wurde. »Der Verfall seines großen Geistes ist nicht mehr aufzuhalten. So sehr sich sein Verstand dem unabwendbaren Wahnsinn nähert, so sehr drückt sich dieser Verfall in seinen Zügen aus. Ich habe Mitleid. Seine Geschichte rührt mich. Ein Wunder muss geschehen, um diesen wertvollen Mensch zu retten.« Chris schluckte trocken und las weiter. »Ihm wird eine große Gnade zuteil, sollte sich erweisen, dass Clara noch lebt. Aber darf ich an solche Wunder glauben?«
Sie schloss die Augen. Die Worte erschufen Bilder hinter ihren Lidern. Gerade eben schien die Wahrheit in erreichbare Nähe zu rücken. Das Geheimnis um Amadeo und den Sandmann fand sie zwischen der Novelle und der Realität. Als der Gedanke Formen annahm und sie danach greifen wollte, zerfaserte er. Es fühlte sich an, als wehte ein Windhauch Rauchfäden davon. Sie ballte die Fäuste. Das gab es doch nicht! Krampfhaft versuchte sie, die Reste ihrer Überlegungen festzuhalten. Die Namen der beiden Frauen hallten nach. Ganz langsam manifestierte sich eine Basis. Vor Jahren, als sie noch ein Kind gewesen war, hatte sie die Geschichte des Sandmanns vorgelesen bekommen. Auch in der Schule hatten sie E. T. A. Hoffmann gelesen. Clara hieß die Verlobte des Protagonisten Nathanael. Olimpia war der für ihn unerreichbare Traum, den er halten und küssen konnte, ohne sie jedoch für sich zu gewinnen.
In welcher Form passten diese Fragmente zu Amadeos Notizen? Sie neigte sich über das Buch.
»Wenn Amadeo nicht vollkommen durchgeknallt ist, sind Clara und Nathanael keine erfundenen Gestalten.«
Christoph deutete ein Nicken an. »Es gibt schließlich auch Olympia – und sie ist eine Maschine.«
Sie verfolgte den Gedanken weiter. »Amadeo schreibt aus der Sicht des Beobachters. Er muss also Clara gekannt haben.« Sie nagte an ihrer Unterlippe. »Wie passt Amadeo in die Geschichte Hoffmanns? Ist er vielleicht Nathanaels Kindheitsfreund?«
Chris schwieg. Sie las keine Gefühlsregung aus seinen Zügen. Warum zum Teufel fiel ihr der Name von Nathanaels Freund nicht ein? Enttäuschung stieg auf. Sie brauchte das Buch, um weitere Thesen aufzustellen.
Das Geheimnis und die Lösung lagen in dem »Nachtstück«, das E. T. A. Hoffmann geschrieben hatte. Mühsam grub sie jeden Erinnerungsfetzen der Novelle aus und ließ das Buch Revue passieren. Nach Minuten hob sie die Lider. Chris, der sich dicht über die Seiten neigte, bemerkte ihren Blick.
»Ist alles in Ordnung?«
Camilla nickte. »Ich habe mir die Geschichte um Nathanael und den Sandmann in Erinnerung gerufen.«
»Lass hören. Wenn dir Passagen fehlen, kann ich sie vielleicht ergänzen.«
Sie warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. »Sitze ich gerade in einer Deutsch-Prüfung?«
Er grinste, schwieg aber. Schließlich straffte sie sich und richtete sich auf. Seine Anwesenheit half ihr, nicht nervös zu werden. Tatsächlich fielen ihr einige Details ein.
»Die Geschichte beginnt in Nathanaels Kindheit, als seine Amme ihm die Horrorgeschichte des Sandmanns erzählt, der den Kindern die Augen stiehlt, um sie seiner Brut zu fressen zu geben. Der Junge vergleicht ihn mit Coppelius , dem Partner seines Vaters, vor dem er sich fürchtet. Das Bild verfolgt ihn bis in den Tod, richtig?«
Chris nickte und gab ihr einen Schubs. »Nicht so verspannt. Ich vergebe keine Noten.«
Sie hob eine Braue. Leider halfen seine Worte wenig. »Die beiden Männer sind Alchemisten. Soweit ich mich erinnere, beobachtet Nathanael, wie Coppelius wegläuft, als eines der gemeinsamen Experimente schiefgeht und sein Vater
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