Glasseelen - Schattengrenzen #1 (German Edition)
zurückstürzen lassen, zumal ihr diese Fähigkeiten erhalten geblieben wären. Macht euch eine Vorstellung, was sie für ein Chaos in der Oberwelt gestiftet hätte!«
»Hat sie hier ihr Glück gefunden?« In Christophs Stimme schwang mehr Ironie mit, zu der Camilla jemals fähig wäre. Er ignorierte Olympias Erklärungen.
»Nur den Tod«, gab Olympia zu.
»Warum habt ihr sie nicht in den Entzug gegeben?« Camilla fand trotz ehrlicher Bemühungen kein Verständnis für das damalige Handeln. Eine Person, wie Chris’ Mutter wohl einst gewesen war, rettete der Alte nicht aus reiner Nächstenliebe, indem er ihr eine zweite Chance in einem mechanischen Körper gab. »Was hat Amadeo sich davon versprochen?« Bevor Olympia antworten konnte, fasste Camilla ihren Verdacht in Worte. »Ist es nicht eher so, dass Amadeo das Kind haben wollte? Vielleicht hoffte er auf dieselben Talente bei Chris.«
»Was?« Olympias Stimme schnitt wie eine Rasierklinge durch die Luft.
»Die Fähigkeiten seiner Mutter«, gab Camilla zornig zurück.
Die Mimik der Puppe änderte sich. Alle Wut wich aus ihr und machte ehrlicher Betroffenheit Platz. »Vielleicht war es wirklich so. Ich habe Amadeos Denkweise nie nachvollziehen können.«
»Oh«, flüsterte Camilla. Ihr Ärger verflog. Ein Gefühl von Leere ergriff sie.
Chris schien es nicht anders zu gehen. Seine Züge erschlafften. All seine Kraft verließ ihn, sogar seine Augen wurden matter. Er richtete sich auf.
»Chris ist eigentlich sehr wichtig für Ancienne Cologne«, sinnierte Olympia. »Er ist wie ein Beschützer. Psychische Belastbarkeit und ein gutes Herz sind wichtig, wenn man an Amadeos Seite leben muss. Deswegen wäre es damals fatal gewesen, wenn Nathanael einen zweiten Jungen zu sich geholt hätte, der vielleicht auch spioniert hätte.«
»Eines verstehe ich nicht«, sagte Camilla, ohne auf Olympias Worte einzugehen. »Warum ist der Sandmann nicht an diesen Ort zurückgekehrt? Es ist schließlich seine Stadt. Er kennt sie, weiß vermutlich über jede Sicherheitslücke Bescheid und könnte sie zurückerobern.«
Olympia nickte. »Das habe ich mich auch gefragt. Gegen ihn oder Andreas hat auch jemand wie Chris keine Chance. Das hat der Sandmann gestern bewiesen.«
Ohne Frage. Gab es überhaupt jemanden, der etwas gegen dieses Monster ausrichten könnte?
»Wenn man Nathanael kennt, weiß man, dass er Perfektion anstrebt«, fuhr Olympia fort.
Ah ja! Diese Art von Vollendung konnte Camilla getrost gestohlen bleiben.
»Auch in der Zuneigung, die andere ihm erweisen. Er würde nie an einen Platz zurückkehren, wo er gefürchtet und gehasst wird. Sein Schutz ist in erster Linie Andreas. Viel mehr Unterstützer stehen nicht auf seiner Seite. Wir hingegen variieren zwischen 200 und 300 Personen.«
Und was war mit Amadeo? Camilla fühlte sich trotz der zahlreichen Erläuterungen noch immer in einem Knäuel verwirrender Fragen verstrickt. Wenn so viele Menschen hier gegen den Sandmann standen …
»Dann könntet ihr doch sein Versteck ausräuchern«, rief sie und umrundete den Tisch, um neben Olympia niederzuknien. »Ihr lasst ihn vor sich hinmorden und nehmt es als gegebenes Martyrium hin. Olympia, das kann doch nicht in deinem Sinne sein.«
Die Puppe senkte die Lider. »So einfach ist das nicht, Camilla. Wir Uhrwerkmenschen sind wahrhaft starke Wesen, aber durch die Seelen in uns sind wir untereinander uneins. Ein kollektives Bewusstsein gibt es nicht.«
Camillas plötzlich aufgeflackerte Hoffnung zerstob in verglühende Funken.
»Individuen haben Angst zu verlieren, was sie besitzen. So fürchten meine Schwestern, das Leben in einer Gemeinschaft aufgeben zu müssen, in der sie akzeptiert und geliebt werden. Nicht alle sind so herrisch veranlagt wie Amelie oder ich. Die meisten leben mit Menschen zusammen, in einer wirklichen Familie. Vergiss nicht, wir haben mechanische Körper, aber lebende, empfindsame Seelen.«
Nachdenklich nickte Camilla. Von der Warte hatte sie die Situation nicht betrachtet. Ihr wurde gerade erst die Tragweite von Olympias Worten bewusst. Diese Wesen waren in der Lage, zu lieben und geliebt zu werden.
»Warum bist du eigentlich allein?«, hörte sich Camilla die Frage aussprechen, die ihr unweigerlich durch den Kopf ging.
»Den Luxus von Gefühlen, Liebe und Familie kann ich mir nicht erlauben, solange Nathanael lebt«, antwortete Olympia bitter.
»Warum?«, fragten Chris und Camilla gleichzeitig.
»Ich habe mehr zu verlieren als die anderen«,
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