Glaub nicht es sei vorbei
»Und press deine feuchte Nase nicht gegen die Scheibe. Frank bringt mich um.«
Sie untersuchte weiter das Armaturenbrett. Sean blieb eine Weile ungeduldig sitzen und sprang dann auf den Rücksitz. Als sie endlich den richtigen Knopf gedrückt hatte, schnüffelte er an einer karierten Wolldecke. »Lass das!«, befahl Rebekka. Aber Sean hörte nicht auf sie, sondern versuchte die Decke auf den Vordersitz zu zerren. »Was ist los mit dir? Ist deine Lieblingsdecke nicht mehr gut genug? Brauchst du eine aus reiner Wolle? Du bist mir vielleicht ein verwöhnter Junge.«
Sie zwang ihn, die Decke fallen zu lassen, erntete einen vorwurfsvollen Blick und zerrte ihn aus dem Wagen. »Wir halten auf dem Heimweg kurz bei McDonald's an, und ich kaufe dir zur Belohnung einen Hamburger, okay?« Sean blickte weiterhin düster drein. »Na schön, dann eben einen Viertelpfünder mit Käse. Dann hast du heute Nacht zwar Blähungen, aber auch den Triumph, dich durchgesetzt zu haben. Oder hast du dich etwa in den Mercedes verliebt? Dann hör gut zu, Junge — wir können uns keinen leisten. Jetzt komm schon.«
Sean zerrte an der Leine, als sie die Stufen zur Veranda hinaufstiegen. Die Vordertür war unverschlossen, und Rebekka trat in die kühle Eingangshalle. »Frank?«, rief sie. Keine Antwort. Aber sie sah, dass neben der Tür eine Einkaufstüte stand. Sie durchstöberte sie und fand Unterwäsche, eine Jeans, eine neue Zahnbürste, ein Exemplar des Romans Vom Winde verweht . Als das Telefon auf dem Schreibtisch in der Halle klingelte, zuckte Rebekka zusammen wie ein Dieb, der sich an Esthers Habe zu schaffen gemacht hatte. Sie hob den Hörer auf.
»Rebekka, bist du das?«, fragte Esther.
»Ja. Clay hat erzählt, dass Frank nicht besonders gut ausgesehen hat, also habe ich beschlossen, ihn hier draußen zu suchen, nur um sicherzugehen, dass es ihm gut geht.«
»Und?«
»Ich habe ihn noch nicht gefunden.« Sie setzte sich auf den Schreibtischstuhl. »Er hat dir ein paar Dinge in eine Tüte gepackt, aber er scheint spazierengegangen zu sein, um sich ein bisschen umzusehen.«
»Dann bin ich froh, dass ich dich erwischt habe. Ich habe nämlich vergessen, ihm mein Prinivil auf die Liste zu schreiben. Das Fläschchen steht in meinem Medizinschrank.«
»Was ist Prinivil?«
»Ein Medikament gegen hohen Blutdruck. Jetzt mach dir nicht gleich Sorgen.«
»Na schön, obwohl du noch nie etwas von Bluthochdruck gesagt hast. Ich werde das Fläschchen in die Tüte stellen. Wie geht's Molly?«
»Sie schläft. Clay hat gesagt, dass er abends noch einmal vorbeikommt, um ihr erneut eine Spritze zu geben.«
»Die wird sie brauchen. Esther, ich fürchte, es gibt nicht mehr viel Hoffnung.«
Esther war einen Augenblick still. Dann sagte sie: »Es gibt immer Hoffnung, Rebekka. Solange wir nicht Todds Leiche gefunden haben, besteht noch Hoffnung.«
»So wird's wohl sein«, sagte Rebekka tonlos, weil sie nicht wirklich glaubte, was Esther da sagte. Esthers Gottvertrauen war so groß, dass sie niemals wankte. Ihre Zuversicht hatte sie nicht einmal vor acht Jahren verlassen, als Jonnie verschwunden war. Und selbst damals war sie nicht verzweifelt. Sie hatte gesagt, dass Jonnie weiterleben würde, dass ein gütiger Gott seine Seele erretten würde.
Wenn ich das bloß glauben könnte, dachte Rebekka, als ihre Augen zu dem Stickbild schweiften, das über dem Schreibtisch in der Halle hing. Es war eine ausgezeichnete Arbeit. Die Schrift war in tiefem Rosé, das Symbol darüber in dunklem Blau auf hellblauem Grund ...
Rebekka stand auf und starrte auf das Stück:
Rebekka hatte das Gefühl, als hätten sämtliche Systeme in ihrem Körper ein paar Augenblicke lang aufgehört zu funktionieren. Sie konnte den Blick nicht von dem Bild nehmen. Alte Erinnerungen stiegen in ihr hoch. Neue Erinnerungen blitzten auf. Endlich wurde ihr bewusst, dass Esther fragte: »Rebekka, bist du noch dran? Ist alles in Ordnung?«
»Esther, ich sehe mir das Bild über dem Schreibtisch in der Halle an«, sagte sie langsam. »Wie lange hängt es schon hier?«
»Das Bild?« Esther klang verwirrt. »Meine Mutter hat es gestickt, Liebes. Da es hinter Glas ist, sind die Farben frisch geblieben, aber es hing schon da, als ich noch ein junges Mädchen war. Mindestens sechzig Jahre. Warum?«
»Ich mochte es, als ich klein war, nicht?«
»Und ob. Seltsam, dass du dich daran erinnerst.«
»Und Doug mochte es auch, nicht wahr?«
»Ja, Rebekka. Schiffe haben ihn schon immer
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