Glaube der Lüge: Ein Inspector-Lynley-Roman (German Edition)
schreiben, der darüber zu entscheiden habe, ob Faircloughs Initiative in den Dokumentarfilm aufgenommen würde. »Ich mache das bisher alles nur auf Verdacht«, hatte sie ihm erklärt. »Ich habe keine Ahnung, ob Sie am Ende in dem Film auftauchen werden.« Das schien ihn zu erleichtern, denn er hatte lebhaft geantwortet: »Also gut. Wann treffen wir uns?«
Jetzt war sie gerade im Aufbruch, um zu dem Treffen zu fahren. Simon telefonierte derweil mit dem Coroner und erzählte diesem eine Geschichte von einer Vorlesung, die er an der London University halten wolle. Sie fand, dass er wesentlich wortgewandter war als sie. Dass er sich so gut verstellen konnte, gab ihr zu denken. Es war kein angenehmes Gefühl zu wissen, dass der eigene Ehemann so ein geschickter Lügner war, wenn es darauf ankam.
Ihr Handy klingelte, als sie gerade ihre Sachen zusammensuchte. Sie warf einen Blick aufs Display und erkannte die Nummer. Diesmal brauchte sie sich nicht mit »Fotostudio Deborah St. James« zu melden. Der Anrufer war Simons Bruder David.
Sie wusste sofort, warum David sie anrief. Sie war bereits darauf vorbereitet.
»Ich dachte, du hast vielleicht ein paar Fragen, die ich dir leicht beantworten kann«, sagte David in einem aufmunternden Tonfall. »Das Mädchen möchte dich unbedingt kennenlernen, Deborah. Sie hat sich deine Website angesehen, die Fotos und alles. Simon meinte, du wärst ein bisschen besorgt wegen der großen Entfernung, weil ihr in London wohnt und sie hier in Southampton. Also, unter normalen Umständen hätte sie das auch gar nicht in Erwägung gezogen, aber sie weiß, dass Simon mein Bruder ist, und ihr Vater arbeitet schon seit über zwanzig Jahren hier in der Firma. In der Buchhaltung«, fügte er hastig hinzu. Was bedeuten sollte: Sie stammt aus einer anständigen Familie , als glaubte er, das Mädchen könnte schlechte Erbanlagen haben, wenn ihr Vater Hafenarbeiter wäre.
Sie wollten eine Entscheidung von ihr. Das konnte Deborah verstehen. Für David und Simon war diese Art der Adoption die perfekte Lösung eines Problems, mit dem sie und Simon sich seit Jahren herumschlugen. Sie waren es beide gewöhnt, jedes Problem im Leben ohne zu zögern anzupacken. Sie waren nicht wie sie, die ängstlich in die Zukunft blickte und sich ausmalte, wie kompliziert und belastend das Szenario werden könnte, das sie vorschlugen.
Sie sagte: »David, ich weiß es einfach nicht. Ich glaube nicht, dass es funktionieren würde. Ich kann mir nicht vorstellen …«
»Heißt das, du sagst Nein?«
Das war auch so ein Problem. Nein zu sagen, bedeutete nein. Um Aufschub zu bitten bedeutete, keine Position zu beziehen. Warum zum Teufel, fragte sie sich, konnte sie sich nicht zu einer klaren Haltung durchringen? Dass es vielleicht ihre letzte und einzige Chance war, müsste ihr die Sache doch eigentlich erleichtern. Aber sie war wie erstarrt.
Sie versprach, David zurückzurufen, erklärte ihm, sie habe es eilig und müsse sich jetzt auf den Weg nach Arnside machen. Ein schwerer Seufzer sagte ihr, dass ihm das nicht gefiel, doch er protestierte nicht. Simon enthielt sich eines Kommentars, obwohl er sein Gespräch beendet und zweifellos mitbekommen hatte, was sie zu David gesagt hatte. Sie verabschiedeten sich neben ihren beiden Mietwagen und wünschten einander viel Glück. Deborah hatte die kürzere Strecke zurückzulegen. Nicholas Fairclough wohnte am äußersten Ende von Arnside, einem Straßendorf, das sich südwestlich von Milnthorpe an einem Wattstreifen entlangzog, der bis zum Kent Channel reichte. Unten am Ufer standen Angler, allerdings konnte Deborah nicht richtig erkennen, in was die Leute angelten. Vom Auto aus war jedenfalls kein Wasser zu entdecken. Sie sah nur, wo die Gezeiten in der Bucht Mulden in den Sand gespült und Sandbänke errichtet hatten, die Gefahr verhießen.
Nicholas Faircloughs Wohnsitz nannte sich Arnside House. Es lag am Ende einer Straße, die gesäumt war von eindrucksvollen viktorianischen Villen, die zweifellos einmal die Sommerresidenzen von Industriemagnaten aus Manchester, Liverpool und Lancaster gewesen waren. Die meisten Häuser waren umgewandelt worden in teure Eigentumswohnungen mit unverbaubarem Blick auf die Bucht, auf das Eisenbahnviadukt, das über die Bucht nach Grange-over-Sands führte, und auf Grange-over-Sands selbst, das heute hinter einem leichten herbstlichen Nebelschleier verborgen lag.
Im Gegensatz zu den prächtigen Villen war Arnside House ein relativ schlichtes
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