Glaube der Lüge: Ein Inspector-Lynley-Roman (German Edition)
tief, aber eiskalt.
Er schaltete die Taschenlampe aus und verließ das Bootshaus. Ließ den Blick über den See schweifen. Es war kein einziges Boot draußen, und in der vollkommen glatten Wasseroberfläche spiegelten sich die herbstbunten Bäume und der beinahe wolkenlose Himmel. Er schaute in Richtung des Herrenhauses. Von hier aus war es nicht zu sehen. Man musste den Pfad zurückgehen, und erst unter den Pappeln kam das Haus in Sicht. Allerdings gab es noch eine Stelle, von der aus das Bootshaus zu sehen war, fiel Lynley auf, nämlich vom obersten Stockwerk und vom Dach eines viereckigen Turms aus, der einen kleinen Hügel südlich des Pappelwäldchens überragte. Das war der Zierbau, in dem Mignon Fairclough wohnte. Sie war am Abend zuvor nicht zum Abendessen erschienen. Vielleicht würde sie sich über einen morgendlichen Besuch freuen.
Der Turm war den für die Gegend typischen Wehrtürmen nachempfunden. Solche Gebäude hatten wohlhabende Familien früher errichten lassen, um ihren Wohnsitzen einen historisierenden Anstrich zu verleihen, obwohl das bei Ireleth Hall kaum nötig gewesen war. Trotzdem war der Turm irgendwann errichtet worden, und jetzt stand er da, vier Stockwerke hoch, mit einem zinnenbewehrten Dach, das offenbar begehbar war. Und von dort, sagte sich Lynley, würde man rundherum alles einsehen können – Ireleth Hall, die Zufahrt, die gesamte Parkanlage, den See und das Bootshaus.
Als er an die Tür klopfte, rief eine Frau aufgeregt: »Was denn? Was denn nun schon wieder? « Vermutlich hatte er Mignon bei irgendeiner Tätigkeit unterbrochen, und er rief: »Miss Fairclough? Verzeihen Sie. Störe ich?«
Ihre Antwort klang überrascht: »Ach! Ich dachte, es wäre schon wieder meine Mutter.« Im nächsten Augenblick wurde die Tür geöffnet, und vor Lynley stand, gestützt auf einen Rollator, eine von Bernard Faircloughs Zwillingstöchtern. Die Frau war von ebenso kleiner Statur wie ihr Vater. Sie trug mehrere wallende Gewänder übereinander, die ihr das Flair einer Künstlerin verliehen und ihren Körper vollständig verhüllten. Außerdem war sie komplett geschminkt, als hätte sie vor auszugehen. Ihre Frisur wiederum hatte etwas Kindliches: Wie Alice im Wunderland trug sie eine blaue Schleife im Haar, das allerdings nicht blond, sondern hellbraun war.
»Ah, ich nehme an, Sie sind der Londoner«, sagte sie. »Sie schleichen schon den ganzen Morgen hier herum. Ich habe Sie eben schon wieder am Bootshaus gesehen.«
»Ach, Sie haben mich gesehen?« Lynley fragte sich, wie das möglich war. Vier Treppen hoch mit einem Rollator. Und er fragte sich, warum sie ihn beobachtete. »Ich wollte ein bisschen frische Luft schnappen«, sagte er. »Vom Bootshaus aus habe ich den Turm gesehen und beschlossen herzukommen, um mich vorzustellen. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, Sie gestern beim Abendessen kennenzulernen.«
»Das ist mir im Moment alles zu viel«, erwiderte sie. »Ich bin vor Kurzem operiert worden und immer noch nicht ganz auf dem Damm.« Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. Lynley rechnete schon damit, dass sie sagen würde: »Ich nehme Sie.« Oder dass sie ihn bitten würde, den Mund aufzumachen, damit sie sein Gebiss begutachten konnte, doch sie sagte nur: »Kommen Sie rein.«
»Störe ich auch nicht?«
»Ich war gerade im Internet, aber das kann warten.« Sie trat zur Seite, um ihn einzulassen.
Das Erdgeschoss bestand aus einem Wohnzimmer und einer Küche. In einer Ecke des Wohnzimmers stand Mignons Computer. Außerdem schien das Erdgeschoss als Lagerraum zu dienen, denn überall stapelten sich Kartons. Zuerst dachte Lynley, Mignon sei dabei umzuziehen, doch dann sah er, dass die Kartons, auf denen eingeschweißte Packzettel klebten, alle an Miss Fairclough adressiert waren.
Der Computer war eingeschaltet, und an der Bildschirmoberfläche erkannte Lynley, dass Mignon gerade dabei gewesen war, E-Mails abzurufen und zu beantworten. Als sie seinen Blick bemerkte, sagte sie: »Virtuelles Leben. Meiner Meinung nach dem wirklichen Leben bei Weitem vorzuziehen.«
»Eine moderne Version der Brieffreundschaft?«
»Gott, nein. Ich habe eine heiße Affäre mit einem Gentleman auf den Seychellen. Zumindest behauptet er, dass er da wohnt. Außerdem sagt er, dass er verheiratet ist und Lehrer ohne Aufstiegsmöglichkeiten. Der arme Mann ist dahin gezogen, weil er Lust auf Abenteuer hatte, und musste leider die Erfahrung machen, dass für ihn Abenteuer nur im Internet zu finden sind.« Ein
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