Glaube der Lüge: Ein Inspector-Lynley-Roman (German Edition)
kommen. Er hatte mit der Frage gerechnet und sagte: »Kucken Sie mal auf die Uhr. Die Schule ist für heute schon aus.«
»Für meine drei nicht«, sagte der Farmer. »Auf welche Schule gehst du denn?«
Herrgott, dachte Tim. Welche Schule er besuchte, ging den Alten genauso viel an, wie wann er zuletzt geschissen hatte. Er sagte: »Hier in der Gegend. Margaret Fox. In der Nähe von Ulverston.« Wahrscheinlich hatte der Typ noch nie von der Schule gehört. »’ne unabhängige Schule. ’n Internat, aber ich bin Externer.«
»Und was ist mit deinen Händen passiert?«, wollte der Bauer wissen.
Tim biss die Zähne zusammen. »Hab mich geschnitten. Muss ’n bisschen besser aufpassen.«
»Geschnitten? Das sieht aber nicht so aus, als hättest du dich …«
»Hören Sie, halten Sie einfach hier an«, sagte Tim. »Sie können mich hier aussteigen lassen.«
»Wir sind aber noch lange nicht in Winster, Junge.« Das stimmte sogar. Sie waren kaum anderthalb Kilometer weit gekommen.
»Lassen Sie mich einfach hier raus, okay?«, sagte Tim so ruhig, wie er nur konnte. Er wollte auf keinen Fall zu aggressiv werden, das war allzu verräterisch. Aber er wusste, wenn der Alte nicht auf der Stelle anhielt, dann würde was Schlimmes passieren.
Der Bauer zuckte die Achseln. Er fuhr an den Straßenrand. Er schaute Tim lange und durchdringend an, wahrscheinlich, um sich sein Gesicht einzuprägen, dachte Tim. Wenn die nächsten Nachrichten im Radio kamen, würde er jeden Raubüberfall oder böswilligen Vandalismus Tim anhängen. Okay, das Risiko musste er eingehen. Besser, als noch länger bei dem Typen im Auto zu sitzen.
»Pass auf dich auf, Junge«, sagte der Bauer, ehe Tim die Tür mit voller Wucht zuknallte.
»Leck mich«, murmelte Tim, als der Land Rover weiterfuhr. Wütend biss er sich in den Handrücken.
Beim nächsten Mal hatte er mehr Glück. Ein deutsches Paar nahm ihn mit bis Crook, wo sie abbogen, weil sie irgendein scheißvornehmes Hotel gebucht hatten. Sie sprachen ziemlich gut Englisch, aber das Einzige, was sie zu ihm sagten, war »Ach, der viele Regen hier in Cumbria«, und wenn sie miteinander redeten, und das taten sie die meiste Zeit, sprachen sie natürlich Deutsch, in kurzen, abgehackten Sätzen und, so schien es ihm, über irgendjemanden namens Heidi.
Kurz hinter der Crook Road hielt ein Lastwagenfahrer. Der Typ fuhr bis nach Keswick, er könne Tim bis nach Windermere mitnehmen, sagte er, kein Problem.
Ein Problem war allerdings, dass der Fahrer es für nötig hielt, Tim einen Vortrag über die Gefahren des Trampens zu halten. Ob seine Eltern wüssten, dass er allein unterwegs war und zu Fremden ins Auto stieg? Du kennst mich ja nicht mal, sagte er. Ich könnte Sutcliffe sein. Oder Brady. Ich könnte ein Kinderschänder sein, der dir an die Wäsche will. Verstehst du, was ich meine?
Tim ertrug das alles, ohne dem Typen eine in die Fresse zu hauen, was er am liebsten getan hätte. Er nickte, sagte: »Ja, sicher«, und als sie endlich in Windermere waren, sagte er: »Lassen Sie mich da an der Bibliothek aussteigen.« Der Fahrer tat ihm den Gefallen, aber nicht, ohne noch einmal zu betonen, was Tim für ein Glück hatte, dass er sich nicht für zwölfjährige Jungs interessierte. Und weil das wirklich zu viel war, sagte Tim ihm, dass er vierzehn sei, nicht zwölf. Der Lastwagenfahrer lachte laut und erwiderte: »Nie im Leben! Und was versteckst du da überhaupt unter deinen weiten Sachen? Wahrscheinlich bist du in Wirklichkeit ein Mädchen, ha ha!« Woraufhin Tim die Beifahrertür zugeknallt hatte.
Er war restlos am Ende mit seiner Geduld. Am liebsten wäre er in die Bibliothek marschiert und hätte sämtliche Bücher aus den Regalen gerissen. Aber das würde ihm überhaupt nichts nützen. Also biss er sich so lange in die Fingerknöchel, bis er Blut schmeckte, und das beruhigte ihn ein bisschen. Er atmete tief durch und machte sich auf den Weg ins Geschäftsviertel.
Selbst um diese Jahreszeit gab es Touristen in Windermere. Es war natürlich längst nicht so schlimm wie im Sommer, wo man auf Schritt und Tritt von irgendeinem mit Rucksack und Wanderstab bewaffneten Touristen über den Haufen gerannt wurde. Im Sommer fuhr kein Einheimischer, der halbwegs bei Trost war, in die Stadt, weil die Straßen dann hoffnungslos verstopft waren. Jetzt war es nicht so voll hier, und die paar hartgesottenen Naturfreaks, die bei dem Wetter hier herumtrotteten, sahen mit den dunkelgrünen Regencapes, die sie über
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