Glenraven
letzte Licht des Tages glitzerte auf dem Gras, das sich zu beiden Seiten des gepflasterten Weges erstreckte. Vögel glitten an ihnen vorbei. Von der Burg im Wald zu ihrer Linken war lediglich ein hoher Turm zu sehen, dessen Spitze ein goldener Ball zierte. Das Ende des Tages verlieh den schimmernden Mauern einer weiteren Burg zu ihrer Rechten einen bernsteinfarbenen Glanz. Ein verführerischer Anblick.
Am Ende der Lichtung teilte sich die Straße. Nach rechts führte der Weg offensichtlich zu jener schönen, glänzenden Burg. Der linke Weg verschwand in den Tiefen eines uralten Waldes. Jayjay runzelte die Stirn. Noch immer war weit und breit nichts von Lestovru zu sehen.
Sophie betrachtete die Straße. Alle Zeichen von Vergnügen waren aus ihrem Gesicht verschwunden. »Was nun?«
Jay hatte die Karte in ihrem Reiseführer aufmerksam studiert und sich die Reiseroute so gut eingeprägt, daß sie sich notfalls auch blind zurechtfinden würde.
»Nur ein Weg führt nach Glenraven hinein, und das ist die Straße, auf der wir uns befinden«, erklärte sie Sophie. »Von hier aus führt die Straße rechts nach Cotha Dramwyn und die links nach Reikstor.«
»Rechts sieht es irgendwie besser aus.«
Jayjay war der gleichen Meinung. Trotzdem schüttelte sie den Kopf und steckte den Reiseführer in die vordere Packtasche, wo sie ihn schneller zur Hand hatte. »Wir haben Reservierungen für heute nacht in Reikstor.«
»Der alte Mann hat von Reikstor gesprochen.«
Jayjay hielt an. Sie spürte eine plötzliche Übelkeit. Sophie hatte recht, der Alte hatte den Namen Reikstor genannt.
Sie hatten in Reikstor reserviert… aber eigentlich konnte niemand außer Lestovru darüber Bescheid wissen. Trotzdem hatte der Alte behauptet, Lestovru nicht gesehen zu haben. Falls er danach mit Lestovru gesprochen hatte und Jayjay und Sophie nichts davon erzählen wollte, dann mußte es einen schwerwiegenden Grund dafür geben… unwahrscheinlich, daß es sich um einen guten Grund handelte. Sie war fest davon überzeugt, daß Räuber auf dem Weg nach Reikstor lauerten. Also konnten sie nicht dorthin gehen. Cotha Dramwyn war ein hübscher Ort, aber als Alternative viel zu offensichtlich. Wenn Lestovru einen derartigen Aufwand betrieben hatte, um sie zu überfallen, dann würde er mit Sicherheit auch bereit sein, sie zu verfolgen… und einen zweiten Versuch zu wagen.
Aber es gab noch eine dritte Möglichkeit. Jayjay dachte über einen Ausweg nach und zog den Reiseführer aus der Satteltasche. Sie studierte die Karte gründlich. Ein Stück weiter nördlich lag ein kleines Städtchen namens Inzo. Die Straße dorthin war als Fußweg eingezeichnet. Sie blätterte zu dem Eintrag über Inzo.
Drei Kilometer (1½ Meilen) nördlich der Grenze zwischen Italien und Glenraven, eingebettet in den östlichsten Winkel des Cavitarin-Waldes, befindet sich das kleine Städtchen Inzo. Der einfache Weiler liegt ein wenig abseits vom Rest Glenravens. Die wenigen Einwohner verdienen ihren Lebensunterhalt mit Landwirtschaft, Wollspinnerei, Weberei und Holzfällen. Inzo wurde während des Malduque-Aufstandes niedergebrannt und seine einstmals stolze Burg geschleift. Seit jenem Tag hat sich Inzo aus allen Streitigkeiten im Verlauf der langen und kriegerischen Geschichte Glenravens herausgehalten…
… es gibt wenig, was den Besucher interessieren könnte. Die Zeit, die man braucht, um nach Inzo zu gelangen, ist an anderer, sehenswerterer Stelle besser investiert.
Das klang nicht gerade nach einer touristischen Hochburg… die letzte Aufregung im Jahre 1040 und Einwohner, die den Kopf in den Sand steckten vor dem, was um sie herum vorging. Aber gerade deswegen erschien Inzo Jay als geeignete Alternative. Wenn das Dorf nichts zu bieten hatte, was Touristen anlocken konnte, dann würden potentielle Wegelagerer sie bestimmt nicht ausgerechnet dort suchen.
Was die Zimmerreservierungen betraf… na ja, wenn in Inzo keine Unterkunft frei war, dann blieben ihnen immer noch ihre Zelte.
Sie wandte sich zu ihrer Freundin. »Ich habe etwas gefunden. Ich denke, wir sollten dorthin gehen.«
Sophie hob eine Augenbraue, sagte aber nichts.
»Einverstanden?«
Sophie nickte. »Einverstanden.«
KAPITEL NEUN
Lestovru trat in die Pedale. Er wünschte, er hätte mehr als nur eine Armbrust dabei. Er konnte das Atmen der Bäume hören und spüren, wie die Augen des Waldes ihn unablässig beobachteten.
Lestovru radelte dicht an dem kleinen Dorf Inzo vorbei und weiter in
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