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Glenraven

Glenraven

Titel: Glenraven Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marion Zimmer Bradley
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vorbei an den leblosen Portraits ihrer verstorbenen Familie. Das Blut rauschte in ihren Adern, ihr Herz schlug schneller, und ihre Muskeln brannten vor freudiger Erschöpfung. Ihr Rücken war gerade, die Hüften schlank und die Gliedmaßen geschmeidig.
    Sie sprang in die Luft, drehte sich und landete mit der Eleganz eines Rehs. Pirouettendrehend lachte sie in den abendroten Himmel und die länger werdenden Schatten.
    Dafür würde ich sie alle noch einmal zum Tode verurteilen, dachte sie froh. Vor den Portraits ihrer engsten Familie blieb sie stehen; Vater, Mutter, ihr einziger Bruder und zwei jüngere Schwestern. Ihr eigenes Gesicht blickte aus einem alten Gemälde herab. Es gab keinen Unterschied zu dem Gesicht, das es betrachtete. Sie verbeugte sich spöttisch vor ihrer Familie und der Vergangenheit.
    »Ihr seid tot, und ich lebe«, sagte sie. »Ich lebe , und ich werde leben, solange es Leben gibt.«

KAPITEL ELF
     
    Sophies Stimmung hatte sich während der Reise nach Inzo erheblich verbessert. Sie und Jay hatten sich äußerst vorsichtig verhalten, doch nichts war geschehen. Niemand hatte sie angegriffen. Keine einzige Menschenseele war ihnen begegnet.
    Als sie Inzo erreichten, verstand Sophie auch den Grund. »Allmächtiger! Jay, dieser Ort kann doch nicht wirklich existieren.« Sie fühlte sich, als wäre sie durch ein Zeittor gefallen. Kleine Steinhütten entlang einer gewundenen, dreckigen Straße kauerten sich unter steile, verwahrloste Dächer. Kühe, angetrieben von einem hageren blonden Jungen in kurzen Lederhosen und Kniestrümpfen, trotteten gemächlich mitten über die Straße. Junge Frauen in langen, engen Röcken unterbrachen die Feldarbeit, lehnten sich auf ihre Hacken und beobachteten die beiden berittenen Fremden, die ins Dorf kamen. Die älteren Frauen und Männer traten aus den Häusern und starrten mit unverhohlener Neugier auf Jay und Sophie, die in eben diesem Moment ihre Pferde zum Stehen brachten.
    »O Mann«, murmelte Jayjay.
    Sophie zählte insgesamt fünfzehn Häuser. Wenn es noch weitere gab, so waren sie gut versteckt. Die Ruinen einer alten Burg blickten von einem kahlen Hügel auf den kleinen Weiler herab; es war wirklich viel Zeit vergangen, seit dieses Ding mehr als nur ein Haufen Steine gewesen war. »Ich glaube nicht, daß wir hier so was wie ein Hotel finden werden.«
    Jay kramte in ihrem Gepäck. »Im Reiseführer stand irgendwas über ein Gasthaus oder so was Ähnliches«, sagte sie. »Laß mich mal nachsehen… « Sie blätterte durch die Seiten, während Sophie versuchte, die kleinen Kinder zu zählen, die sich in den Rockfalten ihrer Mütter verbargen. »Na also. Ich hab’s.« Jay deutete auf einen Absatz und las vor. »Retireti. Familienunternehmen, zwei Zimmer in malerischer Umgebung. Hier haben Sie die einmalige Möglichkeit, das Leben des einfachen Volkes aus nächster Nähe zu beobachten. Bargeld oder Tauschhandel, einfache Unterbringung. Sehr günstig.«
    »Tauschhandel?« Sophie schnalzte mit der Zunge. »O Gott! Wie stehe ich jetzt da? Wo ich doch gerade meine letzten Glasperlen ausgegeben habe. Ich kann mir lebhaft vorstellen, was mit einfacher Unterbringung gemeint ist. Ich hab’s gerochen, als der Wind gedreht hat.«
    Jayjay hob eine Augenbraue und erklärte selbstironisch: »Wo bleibt deine Abenteuerlust?«
    »Die wartet auf eine schöne, heiße Dusche, Madam.«
    »Die Einheimischen machen einen sauberen Eindruck… zum größten Teil.« Jayjay vertiefte sich wieder in den Reiseführer. »Okay… noch mehr N ÜTZLICHE S ÄTZE .« Sie versuchte es noch einmal mit der Phrase, die bereits an der Grenze funktioniert hatte, und fragte, ob jemand Englisch spreche.
    Die Antwort war eine Reihe verdutzter Gesichter - was Sophie ganz und gar nicht überraschte. »Du könntest sie nach dem Weg zur nächsten Bushaltestelle fragen, und wenn du schon dabei bist… ein Cocktail und etwas Kaviar wären auch nicht schlecht.« Eingehend betrachtete sie die Bewohner von Inzo. Der Ausdruck Hinterwäldler schien - so banal er auch klang - auf keine Gruppe von Menschen besser zu passen als auf diese hier.
    »Ich schätze, hier jemanden zu finden, der Englisch spricht, war zuviel verlangt. Aber das macht nichts. Ich weiß schon was. Wo ist denn… ? Das spricht man wohl Sää-hu irgendwas häläro oder so ähnlich. Also werde ich ›Seihau Retireti heilero?‹ fragen.« Jay seufzte. »Das Buch besteht darauf, daß man hier eine Unterkunft finden könnte.«
    »Und wahrscheinlich

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