Glenraven
hatte, das sie gemeinsam gekauft hatten, obwohl ihr die Hälfte gehört hatte. Aus ihrer zweiten Ehe war sie mit noch weniger hervorgekommen. »Ich hoffe, diesmal bist du etwas vernünftiger, Jay. Du hast bis heute schon ein Vermögen zum Fenster rausgeschmissen.«
»Ungefähr 300.000 Dollar. Ich hätte das Doppelte gezahlt, um sie loszuwerden.« Jay lächelte noch immer, aber ihr Blick war starr nach vorne gerichtet. »Ich besitze einen Computer, Talent zum Schreiben und meine Verträge - und ich behielt meinen Verstand… obwohl ich manchmal geglaubt habe, ich würde ihn verlieren. Was brauche ich sonst?«
Sophie stellte sich vor, wie es wohl wäre, alles aufzugeben, was sie besaß. Allein bei dem Gedanken wurde ihr übel. »Aber bei Steven wirst du doch auf einem vernünftigen Arrangement bestehen? Ihr habt dieses große Haus und das alles… «
»Ich glaube, ich werde ihm die Schlüssel geben und mich davonmachen. Genau wie sonst auch.«
»Dann mußt du wieder ganz von vorne anfangen. Jay, du bist mittlerweile fünfunddreißig, und du wirst vielleicht einen Kredit aufnehmen und in einer kleinen Einzimmerwohnung hausen müssen… mein Gott… und nichts anderes als Bohnen und Makkaroni essen.«
Jay lachte. »So schlimm wird es nicht werden. Zumindest habe ich inzwischen kochen gelernt.«
»Du wärst besser dran, wenn du denken gelernt hättest.«
»Nur weil du mit meinen Entscheidungen nicht einverstanden bist, heißt das nicht, daß ich nicht denken kann, Soph.«
Sophie wußte nicht, was sie darauf erwidern sollte. Jay machte, was sie wollte. Das hatte sie immer getan. Außerdem wollte sie nicht über ihre Entscheidungen diskutieren. Der Grund, warum Sophie nie etwas von Bill Pfiesters Drogenproblem oder Stacey Tremonts Schlägermentalität gehört hatte, war, daß Jayjay nicht zugeben wollte, einen Fehler gemacht zu haben.
Im Gegensatz zum Rest der Welt machte Jayjay niemals Fehler. Sie traf Entscheidungen, und ihre Entscheidungen hatten bisweilen komplizierte Konsequenzen. Sophie konnte sich genau vorstellen, wie ihr Jay das mit ihrer Ich-weiß-alles-besser-Stimme erklären würde. Komplizierte Konsequenzen - das klang, als wollte Eule Winnie-Puh eine Lektion erteilen.
Sophie fühlte sich wie Winnie-Puh - kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten, wenn du nicht schlau genug bist, jemandem einen nützlichen Ratschlag zu geben. Nur Stroh im Kopf… das bin ich.
Ich hätte dir erzählt, wenn Mitch so ein Arsch gewesen wäre, dachte sie. Sie blickte schmollend zu Jay und fühlte sich außen vor gelassen. Ich hätte dich um Rat gefragt. Schließlich sind Freunde genau dazu da.
Aber sie selbst war in letzter Zeit zunehmend auf Distanz gegangen. Seit Karens Tod hatte sie nicht mehr richtig mit Jay gesprochen. Sie hatte geglaubt, Jay würde sie sowieso nicht verstehen. Sie wollte nicht mehr mit den Menschen zusammensein, die sie aus ihren besseren Tagen kannte.
Tatsächlich hatte sie Jay auch sonst nicht alles erzählt, was sich in ihrem Leben abspielte.
Sie schnalzte mit der Zunge und verlagerte ihr Gewicht. Das Pferd verstand die Aufforderung und trottete ein Stück voraus. Und Jayjay, stur wie immer, blieb zurück.
Sophie blickte die Straße entlang und dachte nach. Sie hatte Jay wirklich nicht alles erzählt. Sie hatte nichts von Lorin erwähnt. Natürlich war das nicht dasselbe. Sophie hatte eigentlich gar nichts zu erzählen - noch nicht. Vielleicht auch niemals. Es war ja nichts passiert. Vielleicht änderte sich das ja eines Tages, aber nicht heute.
Eines Morgens wacht man auf, sieht in den Spiegel und erblickt eine Fremde. Egal, was man über sich selbst zu wissen glaubt: In diesem Moment muß man erkennen, daß man sich die ganze Zeit über geirrt hat. Man ist zu Unglaublichem fähig.
Ich bin zu Unglaublichem fähig.
KAPITEL FÜNFZEHN
Aidris Akalan zollte dem Gedenken ihrer Familie und ihrer Rolle als Schutzherrin Glenravens höhnischen Tribut. Sie hielt hof wie die Schutzherren und -herrinnen in all den Jahrhunderten zuvor, seit die Kin die Macht übernommen hatten. So war es seit undenklichen Zeiten, wenn man den Geschichten Glauben schenkte.
Aidris saß in einem einfachen Stuhl auf einer kleinen Empore und spielte die Frau, die sich um die Nöte ihrer Mitmenschen sorgte, die eine von ihnen war - genau wie ihr Vater und ihre Brüder vor ihr. Sie amüsierte sich köstlich, wenn sie die Bittsteller mit aufgesetztem Lächeln begrüßte und sie erstaunt bemerkten, daß sie keinen
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