Glockengeläut
Zeitspanne von etwa zwölf Monaten, vom heutigen Datum rückwärts gerechnet. Manch ein Angestellter des öffentlichen Diensts mußte offensichtlich einen langwierigen Entscheidungsprozeß durchlaufen haben, und bei manch einem hatte es noch länger gedauert, diese Entscheidung dann auch kund zu tun.
»Wußte er davon?« fragte ich.
Auch auf diese Frage bekam ich keine Antwort, denn sie lächelte, und das auch nur leicht. Es wäre schwer gewesen, weiter in sie einzudringen.
»Machen Sie sich keine Sorgen«, sagte sie erneut. »Ich werde mich schon um das Feuerchen kümmern.«
»Aber wollen Sie denn die Bilder nicht behalten?« fragte ich. »Vielleicht haben Sie schon so lange mit ihnen gelebt, daß Sie ihrer überdrüssig sind, aber sie sind doch recht bemerkenswert!«
»Als Testamentsvollstrecker sollten wir doch wohl seinen letzten Willen akzeptieren?«
»Ich bin mir sicher, daß Sie aus juristischer Sicht die Bilder behalten könnten.«
»Würden Sie sie gern nehmen? Wobei Sie wissen sollten«, fügte sie hinzu, »daß noch ungefähr hundert weitere in einem Lager in Kingston verwahrt sind.«
»So sehr ich das auch bedauern mag, aber ich habe einfach keinen Platz dafür.«
»Und ich in Zukunft auch nicht mehr.«
»Ich würde gern eines davon nehmen, wenn ich darf.«
»So viele Sie wollen. Möchten Sie die Manuskripte auch nehmen? Sie befinden sich alle in diesem Koffer.« Es handelte sich um ein arg lädiertes Exemplar, das an der Wand lehnte. Ich glaube, ihre höchst unerfreuliche Gleichgültigkeit ließ mich schließlich einwilligen. Es war nur zu offensichtlich, was mit den Manuskripten geschehen würde, wenn ich sie nicht nähme, und irgendwie behagte mir die Vorstellung nicht, das Lebenswerk eines Mannes solle, wie sein Körper, den Flammen zum Opfer fallen.
»Wann ist die Beerdigung?« erkundigte ich mich.
»Morgen, doch sie wird im engsten Kreis stattfinden.«
Ich fragte mich, wo die Leiche wohl sein mochte. Im ehelichen Schlafzimmer? Im Gästezimmer? In einer Leichenhalle?
»Wir glaubten beide nicht an Gott.« Während der ganzen Zeit unserer Bekanntschaft war dies das erste Mal, daß sie von sich aus eine Erklärung zu solch allgemeinen Fragen abgegeben hatte, wenn auch mit negativem Inhalt.
Ich betrachtete die Bilder einschließlich des einen, auf das meine Wahl gefallen war. Sie sagte nichts mehr. Die Bilder waren schon vor einigen Jahren entstanden: vielleicht sogar, bevor der Maler sie kennengelernt hatte.
Sie bot mir weder eine Tasse Kaffee noch ihre Hilfe an, als ich das Bild und den schweren Koffer die zahlreichen Treppenfluchten dieses typischen Battersea-Apartmentblocks hinuntertrug. Während ich heimfuhr, kam mir der Gedanke, daß angesichts meines Zeitaufwands die mir vermachte Summe gar nicht einmal so unangemessen war.
Das Bild hat seitdem jeden meiner Umzüge mitgemacht. Im Augenblick befindet es sich in dem Raum neben dem früheren Kinderzimmer. Ich gehe oft hinein und sehe es mir fünf oder sechs Minuten lang an, wenn das Licht gut ist.
Der Koffer enthielt die ungeordneten Typoskripte seiner Kunstbücher, die er offensichtlich direkt in die Maschine diktiert hatte. Sie waren über und über mit Korrekturen in den verschiedensten Farben bedeckt, was mich insofern nicht störte, als ich nie beabsichtigt hatte, sie zu lesen. Ich habe sie aber auch nie weggeworfen. Sie befinden sich heute auf dem Speicher, immer noch in dem grünen Koffer mit den Aufklebern aus Mussolinis Italien. In diesem bescheidenen Maße lebt mein armer Bekannter immer noch. Er muß wohl gespürt haben, daß ich, mehr als mancher andere, etwas mit ihm gemein hatte - anderenfalls hätte er mich kaum zu seinem Testamentsvollstrecker ernannt.
Der Koffer indes barg in seinem Inneren noch etwas anderes: eine kürzere, persönliche Erzählung, auf große Bogen eines gewellten, ausländischen Papiers getippt, zusammengerollt und von einem dicken, nun brüchigen Gummiband gehalten. Um diese so seltsame und so intime Erzählung einzuleiten, ihren Weg zu mir und die nun folgende Veröffentlichung zu erklären, habe ich das Vorangehende verfaßt. Das Seltsame des Lebens erlangt für mich immer größere Bedeutung - dies um so mehr, als der allgemeine Trend dahin geht, das Leben für planmäßig, vorhersagbar und kontrollierbar zu halten. Und anstelle von ›seltsam‹ könnte man selbstverständlich auch ›geheimnisvoll‹ schreiben.
Nach dem Testament steht der Witwe, der alleinigen Besitzerin des
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