Glockengeläut
A. nennen, den verstorbenen A. Kennern der Materie mag es gelingen, ihn zu identifizieren. Sollte das der Fall sein, so wird es doch zu der Zeit, wenn ihnen dieser Bericht in die Hände fällt, keine Rolle mehr spielen. Und sollten Fremde diese Zeilen früher als von mir erwartet lesen, so werde ich tot sein und frei von der Bürde der Diskretion.
Die belgische Behörde vermittelte mir eine Adresse in Brüssel, an die ich aus England, eigentlich ohne ernsthaften Glauben an einen Erfolg, in meinem rudimentären Französisch schrieb. Mein übliches Interesse an Leben und Persönlichkeit ›meiner‹ Maler mag indes unbewußt dazu geführt haben, daß ich dringlicher und überzeugender formulierte, als ich selbst hatte glauben wollen. Die Sache schien mir durchaus beachtliche Möglichkeiten zu eröffnen. Hatte ich doch trotz meines großen Interesses noch nie persönlich einen der Maler oder auch nur eine Witwe oder einen Verwandten kennengelernt. Allerdings hatten viele der Maler auch schon vor zu langer Zeit gelebt, als daß ich ihnen noch hätte begegnen können. Sollte ich keine Antwort erhalten, wäre ich bereit gewesen, so lange um das Haus herumzustreichen, bis sich dort vor Ort eine Möglichkeit ergeben hätte, hineinzugelangen. Dies erwies sich indes als unnötig. Innerhalb von drei Tagen hörte ich von Madame A.
Ihre Handschrift war wirr und schwungvoll und nahm lediglich die Mitte eines großen dunkelblauen Briefbogens ein. Ihr Brief ähnelte aus einer Uhr hervorspringenden Federn, wie sie Karikaturisten des neunzehnten Jahrhunderts bisweilen gemalt haben. Selbst in Englisch wäre er nur schwer lesbar gewesen, doch schließlich entzifferte ich ihn beinahe komplett. Madame A. schrieb, daß sie, obwohl sie sehr alt sei und seit Jahren weder das Haus verlassen noch Besucher empfangen habe, entzückt sei, daß jemand, nur um sie zu sehen, so weit von seinen Lebensgewohnheiten abweichen wolle; aus diesem Grunde werde sie mich um sechs Uhr an einem Abend, den sie genau benannte, empfangen. Ich hatte ihr zwar zuvor die Daten meiner geplanten Belgienreise mitgeteilt, war aber nichtsdestoweniger sehr erstaunt wegen ihres entschiedenen Termingebarens, da mir dergleichen völlig neu war. Die anderen Bilderbesitzer hatten stets mir die genaue Wahl des Zeitpunkts überlassen, eine Verantwortung, die ich oft als drückend empfunden hatte. Mit der Frage nach meinem Alter beendete Madame A. ihren Brief.
Als der betreffende Abend heranrückte, verbrachte ich den Nachmittag im Musée Wiertz, da es in ungefähr demselben Stadtteil wie Madame A.s Wohnung zu liegen schien. »Wiertz’ malerisches Werk verdankt seinen Bekanntheitsgrad eher dem sensationslüsternen Charakter seiner Bildinhalte denn künstlerischen Errungenschaften«, urteilte der englische Reiseführer, den ich mir zuvor in der Bibliothek besorgt hatte, im bekannt besserwisserischen Ton dieses Genres. Vermutlich hat er damit sogar recht; ich persönlich hielt es allerdings nicht für wahr. Mich faszinierten seine lebensstrotzenden Begräbnisse und seine bedrohlichen Enthauptungen, seine bleiche, blutige Vision jener ›wahren‹ Welt, die zweifellos bleich und blutig ist - wenn auch zugleich langweilig und monoton, was Wiertz unterschlägt. Seine Methode, die Wirklichkeit abzubilden, scheint mir jedenfalls dem Wesen dieser Wirklichkeit zu entsprechen. Auch entzückte mich die Stille und Menschenleere seines enormen, atemberaubenden Studios. Sein schlechter Ruf bei den international anerkannten Richtern des Kunstgeschmacks schreckt traditionelle Kulturreisende ab.
Gleichwohl stiegen in meinem Innern immer größere Bedenken angesichts meines bevorstehenden Abendbesuchs bei Madame A. auf. Bei den meisten meiner bisherigen Bildervisiten war ich relativ selbstbewußt geblieben, sogar in Italien; doch die dortigen Besitzer hatten meine Besuche auch immer als geschäftlich eingeschätzt, so daß ich ihnen ohne große Mühe verbergen konnte, daß es sich für mich um Stationen einer Wallfahrt handelte. Bei Madame A. müßte ich vermutlich weit mehr von mir preisgeben, müßte - zu allem Überfluß auch noch in Französisch - Worte für ein unkonventionelles Anliegen finden. Sie selbst mochte sehr gebrechlich und schwierig sein. Höchstwahrscheinlich sogar war sie das. Es war September, und ich ließ mich auf einer Bank vor dem »Kampf um die Leiche des Patroklos« nieder, ganz allein bis auf den Museumswärter, der um die Ecke vor sich hinmurmelte, während der Abend
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