Glockengeläut
vernünftigerweise erwarten konnte; nur hatte man die Anzeige an wenig werbeträchtiger Stelle in der untersten Ecke der vorletzten Seite plaziert. Es stand da eine Adresse, an die Interessenten wegen eines Termins schreiben konnten. Eine Telefonnummer war nicht angegeben, doch war dies auch keine Angelegenheit, die Nesta telefonisch hätte erledigen mögen.
Die Antwort auf Nestas Brief war überaus elegant auf dickes Papier getippt, und im Briefkopf fand sich, in Rot aufgeprägt, die leicht formalisierte Darstellung einer schlanken Kopf- und Nackenpartie von begehrenswerter Gestalt, wie Nesta zugeben mußte, als sie gedankenverloren mit ihrem Finger über die leicht erhabene Oberfläche des Papiers strich. Die angegebene Adresse jedoch lag in einem Teil der Stadt, der sich nicht in Nestas begrenzter Reichweite befand. Der vorgeschlagene Termin lautete auf eben diesen Vormittag. Der Brief betonte allerdings, daß keine Notwendigkeit bestünde, die Verabredung zu bestätigen; offensichtlich hegte man keinerlei Zweifel daran, daß Nesta alles tun würde, um den Termin wahrzunehmen. Nesta steckte den Brief in ihre Handtasche. Sie entschied sich für ein Taxi.
Es wurde eine lange Fahrt - und eine enttäuschende Stadtbesichtigung. Hohe Reihenhäuser, für kinderlose Ehepaare entworfen, säumten die Straßen, Häuser, die sich offensichtlich für keine andere Art von Bewohnern eigneten, ebenso offensichtlich jedoch nie ihrem ursprünglichen Zweck gedient hatten. In dieser Straße schienen die Wohnungen zimmerweise an alte Leute oder Gestrandete vermietet worden zu sein. Die Gegenwart spielender Kinder zeugte sowohl vom Erneuerungstrieb des Lebens als auch vom unaufhörlichen sozialen Abstieg dieses Straßenzugs.
Das Haus, das Nesta suchte, stand in der Mitte des Blocks. Türklopfer und Briefkastenschlitz waren poliert, die Spitzengardinen hinter den Fenstern sauber und üppig drapiert; trotzdem machte das Ganze auf Nesta einen so freudlosen Eindruck, daß sie sich beim Verlassen des Taxis entschloß, unverzüglich wieder nach Hause zurückzukehren.
Sie zögerte einen Augenblick, um eine Ausrede bemüht.
»Gefällt’s Ihnen nicht?« fragte der Fahrer.
Nesta wandte sich ihm zu. »Nein«, antwortete sie und sah ihn ernst an. Eine weitere Erklärung schien überflüssig.
»Rein mit Ihnen. Bring’ Sie wieder zurück.«
Nesta nickte.
Doch schon war die Gelegenheit vertan. Die Eingangstür des Hauses öffnete sich, und eine Frau näherte sich ihnen durch den kleinen Vorgarten. Nesta besaß nicht die Unverfrorenheit, die es ihr erlaubt hätte, ihrem Impuls zu folgen und einfach Reißaus zu nehmen.
»Haben Sie mir geschrieben?«
Wieder nickte Nesta. Die Frau musterte sie.
»Entscheiden Sie sich«, mischte der Fahrer sich ein. Er schien die jüngste Entwicklung zu mißbilligen. Nesta hingegen sah in ihre Handtasche.
»Ich bin Mrs. de Milo. Sie haben einen Termin mit mir vereinbart.« Es war eine Feststellung.
»Ja«, erwiderte Nesta. »Ich glaube, ich bin pünktlich.« Sie hatte mittlerweile das Taxigeld herausgeholt, doch der Fahrer schien noch immer Zweifel zu hegen.
Mrs. de Milo entgegnete nichts mehr, sie stand nur da und starrte Nesta weiterhin an, als wolle sie an deren Gesicht die Bereitschaft ablesen, zur Sache zu kommen. Mrs. de Milo war eine alterslose Frau mit einem weißen, glatten Gesicht, einer griechischen Nase und großen, aber wohlgeformten Brüsten. Sie trug einen eleganten weißen Kittel, der vor lauter Wäschestärke schwach schimmerte und einen medizinischen Eindruck erweckte. Ihr pechschwarzes, sehr volles und glänzendes Haar war in der Mitte gescheitelt und in einem sorgsam gelegten Nackenknoten gebändigt.
»Kommen Sie herein«, sagte Mrs. de Milo, die sich nun doch entschieden zu haben schien. »Wir können das Gespräch schließlich nicht auf der Straße führen.«
Das Taxi fuhr fort.
Die Reaktion von Curtis an jenem Abend war überaus interessant. Sein Gesichtsausdruck, nachdem Peggy ihn ins Apartment gelassen und er Nesta das erste Mal erblickt hatte, war so, daß Nesta ihn schwer zu entschlüsseln fand, obwohl sie ihn minutenlang beobachtete. Schließlich ergriff er das Wort.
»Liebling!«
Sie lächelte nicht.
»Liebling, ich dachte einen Augenblick -«
Sie kam ihm immer noch nicht zu Hilfe.
»Jedenfalls ... siehst du verändert aus!«
Jetzt verstand sie. Curtis’ erste Reaktion war nichts anderes als blankes Nicht-Erkennen gewesen. Obwohl sie im Schatten gestanden hatte, war
Weitere Kostenlose Bücher