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Glockengeläut

Glockengeläut

Titel: Glockengeläut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Aickman
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Phrynne erneut: »Gerald, wo ist es? Was ist das für ein Seehafen, der kein Meer hat?«
    Sie schritt wieder aus, Gerald jedoch blieb stehen und blickte zurück. Rein gefühlsmäßig war ihm die zurückgelegte Strecke ungewöhnlich lang vorgekommen, doch als er nun sah, wie groß sie tatsächlich war, erschrak er. Auch wenn man die trügerische Dunkelheit in Betracht zog, schienen die spärlichen Lichter am Kai von einem fernen Horizont herüberzuleuchten.
    Die Lichtpunkte noch immer vor Augen, wandte er sich um und hielt nach Phrynne Ausschau. Er konnte sie kaum noch sehen. Vielleicht kam sie ohne ihn schneller voran.
    »Phrynne! Liebling!«
    Unvermittelt stieß sie einen schrillen Schrei aus.
    »Phrynne!«
    Sie antwortete nicht.
    »Phrynne!«
    Als sie antwortete, klang es mehr oder weniger ruhig.
    »Keine Panik. Tut mir leid, Liebling. Ich bin auf etwas getreten.«
    Er machte sich klar, daß es wirklich ein Moment der Panik gewesen war - jedenfalls für ihn.
    »Alles in Ordnung?«
    »Ich denke schon.«
    Er quälte sich zu ihr vor. »Der Gestank wird ja immer schlimmer.« Er war wirklich überwältigend.
    »Ich glaube, er stammt von dem Zeug, in das ich gerade getreten bin. Mein Fuß ist richtig darin versunken, und dann kam dieser Gestank.«
    »Ich habe noch nie so etwas gerochen.«
    »Tut mir leid, Liebling«, sagte sie in leicht neckendem Ton. »Laß uns weggehen.«
    »Laß uns umkehren. Meinst du nicht auch?«
    »Ja«, stimmte Phrynne ihm zu. »Aber ich muß dich warnen: Ich bin sehr enttäuscht. Ich finde, daß unter den Attraktionen eines Seebades die See nicht fehlen sollte.«
    Es fiel ihm auf, daß sie während des Rückwegs die Seite ihres einen Schuhs an den Steinen rieb, als versuche sie, ihn zu reinigen.
    »Kein Zweifel, dieser Ort ist eine einzige Enttäuschung«, meinte er. »Ich muß mich wirklich bei dir entschuldigen. Wir werden woanders hinfahren.«
    »Ich mag die Glocken«, schränkte sie vorsichtig ein.
    Gerald schwieg.
    »Ich will aber nirgendwohin fahren, wo du schon einmal gewesen bist.«
    Die Glocken dröhnten tief und hohl über dem trostlosen Strand. Mittlerweile schien der Klang von jedem Punkt des Ufers zu kommen.
    »Wahrscheinlich üben alle Kirchen in derselben Nacht, damit man es dann ein für allemal hinter sich hat«, mutmaßte Gerald.
    »Oder sie wollen herausfinden, wer am lautesten läuten kann.«
    »Paß auf, daß du dir nicht den Knöchel verstauchst.«
    Der ohrenbetäubende Lärm, der sie bei Erreichen der kargen kleinen Hafenmole erwartete, schien Phrynnes Vermutung zu bestätigen.
    Das Café der ›Glocke‹ war so niedrig, daß Gerald unter den tiefhängenden, mächtigen Deckenbalken den Kopf einziehen mußte.
    »Warum, um alles in der Welt, nennen sie das ›Café‹?« wunderte sich Phrynne, als sie die Worte über der Tür las. »Ich habe gelesen, daß Kaffee nur in der Lounge serviert wird.«
    »Es handelt sich um das klassische Prinzip des lucus a non lucendo .«
    »Das erklärt alles. Ich frage mich nur, welchen Tisch man für uns reserviert hat.« Eine einsame elektrische Hängelampe, ein Antik-Imitat vom Warenhausregal, war angeschaltet worden. Die Glühbirne besaß jene sparsame Wattleistung, wie sie typisch für Hotels ist. Sie trug nicht eben viel dazu bei, die Schatten zu durchdringen.
    »Das Prinzip des lucus a non lucendo bedeutet, daß man weiß für schwarz erklärt.«
    »Nicht ganz«, ließ sich eine Stimme aus der Finsternis vernehmen. »Es verhält sich eher umgekehrt. Die englische Entsprechung für ›schwarz‹, black, läßt sich aus einer alten Wurzel herleiten, die ›bleichen‹, also englisch bleach, bedeutet.«
    Sie hatten geglaubt, unter sich zu sein, entdeckten aber nun einen kleinen Mann, der allein an einem unbeleuchteten Ecktisch saß. In der Dunkelheit wirkte er wie ein Affe.
    »Ich gebe mich geschlagen«, sagte Gerald.
    Sie ließen sich an dem Tisch unter der Hängelampe nieder. Der Mann in der Ecke meldete sich wieder zu Wort. »Warum sind Sie überhaupt hier?«
    Phrynne sah verängstigt aus, doch Gerald beantwortete gelassen die Frage. »Wir machen Urlaub. Wir ziehen es vor, in der Nachsaison zu reisen. Ich vermute, Sie sind Kommandant Shotcroft?«
    »Schenken Sie sich Ihre Vermutungen.« Der Kommandant knipste die pseudoantike Hängelampe in seiner Reichweite an. Seinen Tisch bedeckten die Reste der Abendmahlzeit. Gerald schoß der Gedanke durch den Kopf, daß der Kommandant das Licht ausgeschaltet haben mußte, als er hörte, wie sie

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