Glockengeläut
Gerald wieder an Mrs. Pascoe. »Wann gibt es Abendessen?«
»Um halb acht. Sie haben also noch Zeit für einen Drink in der Bar.«
Sie ging.
»Die haben wir allerdings«, kommentierte Gerald, während er die Tür schloß. »Es ist noch nicht einmal sechs.«
»Eigentlich«, sagte Phrynne, die am Fenster lehnte und auf die Straße hinuntersah, » mag ich Kirchenglocken.«
»Alles gut und schön«, erwiderte Gerald. »Aber in den Flitterwochen lenken sie doch ein bißchen zu sehr von den wichtigen Dingen des Lebens ab.«
»Mich nicht«, sagte Phrynne schlicht. Dann fügte sie hinzu: »Auf der Straße ist noch immer kein Mensch zu sehen.«
»Wahrscheinlich sind sie alle in der Bar.«
»Ich möchte keinen Drink. Ich möchte mir die Stadt ansehen.«
»Ganz wie du willst. Aber solltest du zuvor nicht erst auspacken?«
»Ich sollte schon, aber ich will nicht. Nicht, bevor ich das Meer gesehen habe.« Diese kleinen Anzeichen ihrer Unabhängigkeit entzückten ihn.
Weder ließ sich Mrs. Pascoe blicken, als sie durch die Lounge gingen, noch rührte sich sonst irgend etwas im Haus.
Draußen schien es ihnen, als dröhnten und tanzten die Glocken direkt über ihren Köpfen.
»Wie Krieger, die am Himmel eine Schlacht austragen«, rief Phrynne. »Meinst du, daß das Meer dort drüben liegt?« Sie wies in die Richtung, aus der sie vorhin ein Stück zurückgegangen waren.
»Ich glaube, ja. Die Straße scheint blind zu enden. Da wird wohl das Meer sein.«
»Komm! Laß uns laufen!« Sie war davongestürmt, bevor er auch nur einen Gedanken hatte fassen können. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als hinterdrein zu laufen. Er konnte nur hoffen, daß hinter den Fensterläden keine neugierigen Augen lauerten.
Plötzlich blieb sie stehen und breitete ihre Arme weit aus, um ihn aufzufangen - sie reichte ihm kaum bis zum Kinn. Was sie ihm damit wortlos bedeuten wollte, wußte er: Er habe keinen Grund, über seine läuferischen Mängel ins Grübeln zu verfallen.
»Findest Du es nicht auch herrlich?«
»Das Meer?« Der Mond schien nicht, und jenseits der Straße war nur wenig auszumachen.
»Nicht nur das Meer.«
»Eigentlich alles andere außer dem Meer. Davon sieht man schließlich nichts.«
»Du kannst es riechen.«
»Ich kann es aber nicht hören.«
Sie erschlaffte in seiner Umarmung und warf herausfordernd den Kopf zur Seite.
»Die Glocken haben ja ein richtiges Echo - man könnte meinen, es seien zwei Kirchen.«
»Ich bin mir sicher, daß es sogar noch mehr sind. In so alten Städtchen wie diesem gibt es immer unzählige Kirchen.« Plötzlich begriff er, was er gerade gesagt hatte, vor allem in bezug auf Phrynnes Vermutung. Er zog sich ganz in sein Inneres zurück, lauschte angespannt.
»Oh ja«, rief Phrynne begeistert, »es ist eine andere Kirche.«
»Unmöglich«, widersprach Gerald. »Zwei Kirchen würden doch nicht zur selben Zeit probeläuten.«
»Ich bin mir ziemlich sicher. Mit meinem rechten Ohr kann ich ein Glockengeläut hören und mit meinem linken Ohr ein zweites.«
Noch immer hatten sie niemanden gesehen. Die Gasbeleuchtung warf ihr dünnes Licht auf die Anlage der steinernen Hafenmole, klein, aber offensichtlich regelmäßig in Gebrauch.
»Die ganze Bevölkerung muß an den Glocken sein.« Die eigene Bemerkung verwirrte Gerald.
»Um so besser für sie«, sagte Phrynne und ergriff seine Hand. »Komm, laß uns zum Strand ’runtergehen und das Meer suchen.«
Sie stiegen eine steinerne Treppe hinab, an der die See genagt und geschliffen hatte. Der Strand war genauso steinig wie die Treppe, Kiesel und ganze Blöcke lösten einander ab.
»Wir gehen einfach immer geradeaus«, erklärte Phrynne, »bis wir es finden.«
Aus eigenem Antrieb wäre Gerald weniger wagemutig gewesen. Die Steine waren groß und ausgesprochen glatt, und seine Augen schienen sich einfach nicht an die Düsternis gewöhnen zu wollen.
»Du hast recht mit dem Geruch, Phrynne.«
»Richtiger Meeresgeruch.«
»Du sagst es.« Ihm schien der Geruch hingegen eher dichten Massen verrottenden Seetangs zu entsteigen, über die sie, wie er annahm, gerade dahinschlidderten. Es war jedenfalls kein Geruch, der ihm in dieser Intensität schon einmal begegnet wäre. Aber er hatte schon bald keine Kraft mehr zum Grübeln, zudem erwies es sich als unmöglich, weiter Hand in Hand zu gehen.
Sie tauschten noch eine Reihe von belanglosen Bemerkungen aus, während die Zeit verstrich, eine recht lange Zeitspanne, wie es ihnen schien. Dann sprach
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