Gloriana
der Lichtschein auf die Degenklinge fiel, falls bösartige Blicke sie verfolgen und die Möglichkeiten eines Angriffs abschätzen sollten. Dann bemerkte sie einen anderen Lichtschein am Kopf einer anderen, schmalen Treppe, und auf einmal fühlte sie ihr Herz pochen, als wollte es ihr den Brustkorb sprengen. »Heda!«
Sie hob ihre Flamme. Die Echos ihrer Stimme kamen von allen Seiten zurück, als ob eine Schar ungesehener Verfolger sie verspottete. Als sie ihre Kerze mit der Hand beschirmte, sah sie im Treppenaufgang keinen Lichtschein mehr.
Sie begann die tollkühne Leichtfertigkeit dieses Unternehmens zu begreifen. Sie hätte die Angelegenheit zuerst überschlafen sollen, hätte Rat suchen sollen, und wenn nur von Wheldrake und Lady Lyst. Die beiden hätten sie begleitet. Aber sie traute ihnen nicht viel gesunden Menschenverstand zu: Der eine war zu phantasievoll, die andere ständig angetrunken und undiszipliniert. Dieses Bedürfnis, zu erfahren, wer Tallow ermordet hatte, konnte sie selbst das Leben kosten. Dennoch gäbe es von den Jammergestalten, die sie hier unten gesehen hatte, nichts zu fürchten. Konnte eine von diesen Tallow umgebracht haben? Und vielleicht auch Lady Mary, wenn sie diese Bewohner der Unterwelt womöglich in der Ausführung eines Verbrechens überrascht hatte? Ihre Gedanken waren einen Augenblick klar, im nächsten wieder verschwommen und unbestimmt. Hin- und hergerissen zwischen ruhiger Überlegung und an Panik grenzender Ratlosigkeit, begann sie zu zittern. Sie überlegte, in welcher Gefahr sie sich befand, versuchte sich Mut zu machen. Tallow war so gut wie waffenlos gewesen, Lady Mary hatte überhaupt nichts gehabt, was als Waffe verwendbar gewesen wäre. Die schlecht ernährten, elenden Nomaden des Untergrunds würden vor einem jungen Edelmann mit gezücktem Degen furchtsam zurückweichen. Sie waren nicht mutig, was leicht zu beweisen war: Warum sonst würden sie hier im Verborgenen leben? »Wer da?«
Die Echos schienen sich zu vermehren. Schatten glitten über die Wände und durch die Winkel, wohin sie auch blickte. Es war unmöglich festzustellen, welche ihr eigener Körper warf und welche womöglich von fremden Gestalten herrührten. Endlich erreichte sie eine weitere Galerie, geräumig und übersichtlich. Als sie weiterging, fühlte sie die Schatten zurückfallen und war wieder allein. Sie versuchte zu lachen und nannte sich einen Dummkopf, durch kindische Einbildung in Panik geraten.
Dann fiel der Lichtschein ihrer Kerze auf eine schlanke, zerlumpte Gestalt, die ihre Augen beschirmte und seltsam schnatternde Angstlaute von sich gab, als sie vor ihr zurückwich. Dann war sie verschwunden. Irgendwo knarrte ein Scharnier. Wenn diese Gestalt beispielhaft für den Feind war, dann durfte sie sich ermutigt fühlen. Sie ging schneller durch die Gänge, ließ Türen zu beiden Seiten unbeachtet, konzentriert auf die Suche nach der großen Halle, in der das Kaminfeuer gebrannt hatte.
Der Gang öffnete sich auf einen Treppenabsatz, und sie sah, daß sie in einem geräumigen und hohen Treppenhaus stand. Die Treppe verband mehrere Stockwerke, und durch die schwere Pracht der geschnitzten Treppengeländer spähten Gesichter, die sie mit offener, aber neutraler Neugierde musterten. Die Gesichter wirkten sonderbar verformt, nicht durch die gedrechselten, mit Akanthusblättern geschmückten Säulenstäbe des Geländers, sondern im Verhältnis zu ihren Körpern. Nach einigen Augenblicken bemerkte Una, daß sie von einem großen Zwergenstamm, bestehend aus Männern, Frauen, Kindern und Jugendlichen, beobachtet wurde, den sie auf einer Wanderschaft zwischen den Stockwerken gestört hatte, denn alle waren mit Bündeln und Packen beladen. Sie entspannte sich und lächelte zu ihnen auf. »Einen guten Morgen wünsche ich euch!«
Die Echos ihrer Stimme waren jetzt hoch wie die Töne einer tremolierenden Violine, und klangen ihr angenehm im Ohr. Mehrere der Zwerge grinsten zurück und zeigten ihre Zähne. Una sah, daß die Zähne spitz zugefeilt waren, und ihr eigenes Lächeln verging. Sie nickte ihnen zu und ging so schnell weiter, wie sie es für klug hielt. Aber sie sollte nicht die Beute des Stammes sein, denn als sie ihre Wanderung fortsetzte, zog auch der Stamm weiter die Treppen hinauf, begleitet vom Geräusch vieler Füße und vieler murmelnder Stimmen.
Als Una in eine weitere Galerie gelangte, kam ihr der Gedanke, daß die Zwerge wie Flüchtlinge auf sie gewirkt hatten, wie ein ausgestoßenes
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