Gloriana
gesehen hatte, so alltäglich, daß es abnorm schien. »Sir? Kommt Ihr, mir zu helfen?« »Dir helfen?« Una zögerte. »Bist du bedürftig?«
Das Mädchen schlug den Blick nieder. »Ja, ich hoffte … Aber es gibt in diesem schrecklichen Ort niemanden, der den Mut hat …«
»Ich werde dir helfen, wenn ich kann«, sagte Una. Sie trat näher, hob die Kerze und blickte dem Mädchen ins Gesicht. Die Züge waren einfach, die Augen blickten unschuldig. Es gab keinen Zweifel, daß diese verirrte Bauerntochter von Fleisch und Blut war. »Aber du mußt mir auch helfen. Wie kommt es, daß du hier bist?«
»Mein Vater brachte mich, Sir. Um seinen Gläubigern zu entgehen. Er meinte hier sicher zu sein. Er hatte von seinem Großvater von dem geheimen Eingang erfahren.« Das Mädchen begann leise zu weinen. »Oh, Sir, seit einem Jahr oder länger bin ich schon hier.« »Wo ist dein Vater?«
»Tot, Sir. Erschlagen von den niederträchtigen Herren Evius und Picus d’Amville.«
»König Herns Anhängern? Sie sind noch am Leben?«
»Alt, Sir, aber durch die Beibehaltung von Gewohnheiten, die sie am Hofe Herns annahmen, am Leben geblieben.« »Montfallcon sandte die zwei nach Lydien, wo sie am Feldzug teilnehmen sollten. Sie wurden von Briganten niedergemacht.«
»Nach König Herns Tod kehrten sie insgeheim zurück und leben seitdem hier.« Das Mädchen senkte die Stimme. »Sie haben Männer unter sich – nur wenige, aber schlimme, blutdürstige Menschen – und herrschen über ein großes Territorium.« »Dies ist Teil davon?«
»Nein, Sir. Dies war einst das Königreich eines anderen, in Ungnade gefallenen Ritters, der vor kurzem erschlagen wurde.« »Du scheinst viel darüber zu wissen, was in diesen Bereichen vorgeht. Willst du mir erzählen, was du weißt, wenn ich dir zur Flucht verhelfe?« »Gern, Sir.«
»Es gibt hier irgendwo einen Saal – ich denke, er ist in der
Nähe, habe aber die Orientierung verloren –, wo Familien
kampieren. Kennst du ihn?«
»Ich denke schon, Sir.«
»Hast du von Jephraim Tallow gehört?«
»Freilich, Sir. Er ist sein eigener Herr. Er war gütig zu mir.«
»Nun, Tallow zeigte mir einmal diesen Saal. Ein großes
Kaminfeuer brannte darin.«
»Dann weiß ich, wo es ist, Sir.« Das Mädchen nahm Una unbefangen bei der Hand. »Kommt mit mir. Der Weg ist sicher.« »Von dort finde ich zurück in die Außenwelt.« Una dachte, daß es einstweilen genügen möchte, dieses junge Mädchen zu retten und in den äußeren Palast zurückzubringen. Dort würde sie dann auch eine Zeugin haben, die bestätigen konnte, was in diesen Bereichen vorging, und genug Beweise liefern würde, um Gloriana zu überzeugen, daß sie Expeditionen aussenden, die Tyrannen festnehmen und die Verfolgten retten mußte. Doch mit dem Gedanken stellten sich schon die Bedenken ein, schien das Ganze doch zu ungeheuerlich. Und würde Gloriana die Notwendigkeit einsehen? Vielleicht hatte ihre Familie diesen Mikrokosmos seit Generationen existieren lassen, weil sie in seinen Bewohnern eine Art Opfer für die toten Vorfahren sah, welche diese alten Teile des Palastes erbaut hatten: ein Hofgesinde zur Bedienung und Unterhaltung zu vieler königlicher Geister.
Das junge Mädchen führte Una rasch und sicher durch das Labyrinth der Gänge, um schließlich an einer Tür halt zu machen, sich auf die Lippe zu beißen und forschend zu seiner Wohltäterin aufzublicken. »Hier ist es, Sir, denke ich.« Una zog die Tür vorsichtig auf. Sie knarrte; durch den Spalt sah Una den vertrauten Feuerschein. Sie öffnete die Tür ein Stück weiter und erkannte die weitläufige Halle. Aber es hatte eine Veränderung stattgefunden, denn in der Mitte erhob sich jetzt eine Plattform aus Granit- und Marmorplatten, die von verschiedenen Orten herbeigeschafft worden waren, denn manche waren unbearbeitet und nur geglättet, während andere Teile von fein ausgearbeiteten Basreliefs trugen. Und auf dieser seltsamen Plattform, deren Bausteine unregelmäßige Stufen bildeten, stand ein barbarischer Elfenbeinstuhl, augenscheinlich eine ostindische Arbeit, über und über bedeckt mit komplizierter Schnitzarbeit, die Szenen kriegerischen Ruhms und amouröser Eroberung zeigten. Und in diesem Stuhl lag zurückgelehnt eine Gestalt, das Gesicht in einer Kapuze verborgen, die Hände in langen, schwarzen Ärmeln versteckt, die Füße von den Gewandfalten bedeckt. Und auf der Kapuze saß eine hohe, spitze Krone – eine Krone aus Eisen, Diamanten und Smaragden; eine
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