Glück, ich sehe dich anders
die auf Stühlen abgesessen wurden. Es sollten bei mir noch zwei Infusionen gemacht werden, als nach der achten mein linker Arm furchtbar schmerzte. Ich legte mich zu Hause früh ins Bett und nickte auch recht bald ein, schreckte aber plötzlich zwei oder drei Stunden später wieder hoch, war schweißgebadet, mein Puls raste, und meinen Herzschlag spürte ich im Hals und in den Ohren pochen. Ich zog mich irgendwie an und schleppte mich nach unten ins Wohnzimmer, wo Rolf fernsah. »Mir ist schlecht, ganz schlecht, ich glaube, es ist etwas Ernstes, mein Herz, rufe einen Krankenwagen!!!« Ich dachte, mein Leben ist zu Ende.
Rolf schaute ziemlich verdutzt, und noch ehe er den Hörer greifen konnte, hatte ich schon selbst den Krankenwagen angerufen und in den Hörer gebrüllt, es solle sofort Hilfe kommen. Der Mann am anderen Ende der Leitung bekam von mir alle wichtigen Informationen: »Tinnitus, Infusionen, hoher Blutdruck, Stress, zwei behinderte Kinder« – und unsere Adresse.
Im Stillen dachte ich, ich müsste noch schnell zu den Kindern hochlaufen und mich verabschieden. Ich wollte sie noch einmal sehen. Was hatte ich für eine Panik, die mir solche Gedanken in den Kopf schießen ließen?
Der Krankenwagen kam und kam nicht, mindestens eine Viertelstunde verging. Was bildeten die sich ein? Ich hätte schon längst tot sein können. Schlaganfall, Herzinfarkt, wer weiß, was ich hatte? Rolf rief noch einmal die Notrufnummer an. Der Krankenwagen war unterwegs. Er erreichte nach fünfundzwanzig Minuten, die mir endlos lange erschienen, unser Haus. Oma Karin und Opa Rolf waren mittlerweile auch verständigt und trafen kurz darauf ein. Der Notarzt untersuchte mich, konnte aber nur einen sehr hohen Blutdruck feststellen. Man nahm mich mit in die Klinik. Rolf fuhr hinter dem Krankenwagen her. Es verging eine Stunde, bis ich endlich untersucht wurde. Mittlerweile hatte sich mein Blutdruck wieder beruhigt. Der Arzt checkte mich gründlich durch. Herz, Wahrnehmung, Blutbild, alles in Ordnung. Meine Befürchtungen wurden nicht bestätigt. Man gab mir etwas Baldrian, und ich verbrachte eine Nacht in der Klinik. Am nächsten Morgen war die Visite sich einig, dass ich wohl etwas durchgedreht und es durch die sehr belastende Familiensituation zu einem Nervenzusammenbruch gekommen sei. Man bot mir ein Gespräch mit einem Therapeuten an. Oh, wie nett, dachte ich. Ein Gespräch, das nahm ich gern in Anspruch, zumal ich einen positiven Eindruck von solchen Gesprächen durch meine Psychologin in der Kinderkrebsklinik hatte.
Hier wurde es jedoch ein furchtbares Erlebnis für mich, das mir noch lange zusetzte. Ein kleiner, korpulenter Mann betrat das Zimmer. Forsch und energisch stellte er sich als Arzt der Psychiatrie vor. Von oben herab betrachtete er mich. Ich fühlte mich unwohl unter seinem Blick. Er hatte einen beigefarbigen Rollkragenpullover unter einem karierten Blazer an. Bisher hatte ich Karos als sehr hübsch empfunden, ob bei Küchengardinen oder Hosen, aber seit dieser Begegnung mag ich keine klein karierten Stoffe. Ich saß wie ein Häufchen Elend im Bett, nicht geduscht, die Haare hingen mir fettig ins Gesicht. Der Psychiater baute sich vor mir auf und sagte: »Ich habe von Ihren Problemen gehört. Das sage ich Ihnen gleich: Wenn Sie so was noch mal bekommen, dann müssen Sie bei mir stationär in der Psychiatrie aufgenommen werden. Das sind Angst- oder Panikattacken.«
Normalerweise hätte ich dem Arzt eine passende Antwort gegeben, aber ich schwieg lieber. Vielleicht hätte er eine Zwangsjacke geordert und mich gleich abtransportieren lassen. Ich erzählte also stattdessen brav in Kurzfassung, was in meinem Leben bisher geschehen war, und im nächsten Moment meinte er, sich ein komplettes Urteil über mich und meine Familie bilden zu können. Er sagte zu mir: »Das kann doch nicht sein. Sie sitzen hier mit einem Grinsen im Gesicht und erzählen mir, dass ihre Kinder beide behindert sind und ihre ältere Tochter noch zusätzlich Leukämie hat. Machen Sie sich da nicht etwas vor? So toll kann das alles doch nicht sein.«
Was wollte er mir vermitteln? Dass mein Leben nicht lebenswert ist?
Dann stellte er fest, dass ich Übergewicht habe.
Ich fühlte mich provoziert, als er mir zu verstehen gab, dass ich überfordert sei. Ich verstand es so, als wäre ich eine völlig durchgeknallte, frustrierte, fette Mutter, die der Wahrheit nicht ins Auge sah.
Er hätte mich am liebsten gleich auf seine Station eingewiesen. Da
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