Glück, ich sehe dich anders
nach einer »normalen«, heilen Welt über mich. Ich würde niemals Großmutter werden, niemals ein Haus voller Enkel haben. In mir schlummerte jedoch der Wunsch, eine vorbildhafte Mutter und Großmutter zu sein, wie es Helga Beimer in der Fernsehserie Lindenstraße ist. In meiner Verzweiflung suchte ich wieder ein Gespräch zu Angelika Wienhold, der Mitarbeiterin des Familienentlastenden Dienstes der Lebenshilfe, die mir schon öfter weitergeholfen hatte und die ebenfalls Mutter einer mehrfach schwerstbehinderten Tochter war. Sie hatte nur diese einzige Tochter. Ich fragte sie nicht nur einmal, ob sie nie die Vorstellung von einer »normalen« Familie mit Enkelkindern gehabt habe. Sie antwortete mir ruhig, und ich schöpfte aus diesen Gesprächen jedes Mal Mut und Kraft. Ich war angetan von der Ausstrahlung und Persönlichkeit dieser Frau. Von ihr erhielt ich die notwendige Lebenshilfe. Unser Leben war nun einmal so, und wir konnten nichts daran ändern. In meinem Leben würde es keine Enkel geben, aber zwei sehr wertvolle Menschen waren bei mir, die selbst als Erwachsene Kinder bleiben würden, die nichts Böses kannten, die jeden Tag genießen konnten und sich nicht – wie so viele Menschen auf dieser Welt – den Kopf über mehr oder weniger wichtige Dinge zerbrachen. Sie waren nicht wie gesunde Kinder, die später einmal das Elternhaus verließen, um in die weite Welt hinauszugehen oder zu heiraten. Sie blieben bei uns, solange wir für sie sorgen konnten. Ich durfte nicht im Selbstmitleid ertrinken.
Ich durfte nicht in Depressionen verfallen und nach außen hin so tun, als wäre ich überglücklich. Es gab Tage des totalen Glücks, aber es gab auch Tage mit viel Schatten, das musste ich mir eingestehen. Ich spazierte abends oft noch einmal allein durch unseren Garten und schaute mir die Blumen an. Rolf hatte mir ein Gewächshaus gebaut. Ich zog mich darin zurück und versorgte meine Blumen, meine Gurken und Tomaten. Ich ließ die Gedanken dann einfach schweifen, überlegte meist, wie es weitergehen sollte. Dabei tankte ich frische Luft.
Rolf sagte manchmal: »Du bist irgendwie komisch geworden!«
Komisch? Nein, anders, verändert. Bisher hatte ich nach außen immer gestrahlt. Jetzt war ich endlich mal ICH. Ich hatte es immer anderen recht machen wollen, war immer nett und freundlich, hatte immer ein Grinsen auf dem Gesicht und immer einen Witz parat, und nun war ich ruhig und in mich gekehrt, blickte skeptisch in die Welt und sagte auch öfter mal NEIN. Ich hatte es also mal wieder meinen Kindern zu verdanken, dass ich mich selbst viel besser kennen lernte, denn nur durch die Erfahrungen mit ihnen konnte ich mich selbst besser einschätzen und erlaubte mir, auch einmal etwas abzulehnen, was ich früher sicherlich hätte über mich ergehen lassen. Ja, ich war früher immer zu Späßchen aufgelegt, immer nett, freundlich und hilfsbereit, hatte für jeden ein offenes Ohr. Nun hatte ich aber gemerkt, dass die meisten Menschen mir nicht das entgegenbrachten, was ich jahrelang getan hatte, und so änderte ich mein Verhalten. Plötzlich war ich stur und beharrte auf meiner ganz persönlichen Einstellung. Ich dachte in erster Linie an mich, und ich fühlte mich besser so. Jetzt konnte ich einen nervigen Anruf zur Abendbrotzeit ablehnen. »Du störst gerade. Ich habe gerade überhaupt keine Zeit. Ich rufe zurück«, sagte ich. Oder wenn mich jemand fragte, ob ich ihn dort mal schnell hinfahren könnte, sagte ich: »Nein, es liegt nicht auf meinem Weg!« Keine großartigen Entschuldigungen und keine Rechtfertigungen.
Dadurch hatte ich Zeit zum Nachdenken und zum Trauern. Ich hatte die ganze Zeit funktioniert wie eine Maschine, war immer parat gewesen. Ich hatte während der ganzen Zeit seit Louises Krebserkrankung nicht einmal die Zeit gehabt, über Loreens Behinderung zu trauern, ich hatte nicht einmal die Zeit gefunden, meinem Kater nachzutrauern. Mein Kater Leo hatte mich so lange durch mein Leben begleitet, mich getröstet und sich abends an mich gekuschelt. Vor einem Jahr war er plötzlich verschwunden, doch erst jetzt spürte ich, wie sehr ich ihn vermisste. Wo war er nur geblieben? Er musste während der Intensiv-Chemo von Louise draußen im Schuppen oder bei den Nachbarn mit den anderen Tieren im Stall schlafen. Er hatte zu oft gekratzt, war manchmal unberechenbar, das war zu gefährlich für Louise. Er kam täglich einige Male zum Fressen nach Hause, lag zufrieden im Garten, spielte draußen oder war mit
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