Glück muß man haben
die für solche Fälle nun einmal geschaffen ist, gedreht hatte. Protokollseiten wurden vollgeschrieben, Stempelabdrücke verstreut, Unterschriften geleistet. Anfangs wurde sogar erwogen, einen Dolmetscher beizuziehen, aber die Telefongespräche, die zu diesem Zweck geführt wurden, erbrachten nur die Gewißheit, daß am Samstagabend keiner aufzutreiben war. Wilhelm ließ alles mit einem Gleichmut über sich ergehen, der die Beamten unnatürlich anmutete, wußten sie doch aufgrund der dem Delinquenten zur Last gelegten Tatbestände, daß er ein unberechenbarer menschlicher Vulkan mit verheerenden Ausbrüchen war. Die Spannweite einer solchen Seele kam ihnen nicht mehr geheuer vor. Wie lautete doch das Urteil, das Hauptwachtmeister Polansky seinen Kollegen gegenüber vertrat? »Das hat doch nichts mehr mit Deutschtum zu tun!«
Ehe Wilhelm endlich wieder gehen durfte, sagte der Revierleiter noch zu ihm: »Das war nun erst die Geschichte im ›Alhambra‹. Sie tun jedoch gut daran, damit zu rechnen, daß auch noch die ›Sonnenblume‹ hinzukommt. Diesbezüglich fehlt uns vorläufig lediglich noch die Anzeige.«
»Aber wer dort anfangen mit Krieg? Nicht ich«, wandte Wilhelm ein.
»Das wird man feststellen. Vermutlich wollen Sie auf Notwehr hinaus? Merken Sie sich aber, es gibt auch den Tatbestand der ›überschrittenen Notwehr‹.«
Wilhelm seufzte.
»Ich das nicht verstehen.«
»Ihr Anwalt wird Ihnen das schon noch erklären.«
»Anwalt? Ich haben keinen.«
»Dann müssen Sie sich einen besorgen. Ab heute brauchen Sie nämlich einen. Machen Sie sich mit diesem Gedanken vertraut.«
Es war schon später Abend, als Wilhelm nach Hause kam. Der Versuchung, vorher noch einmal bei der ›Sonnenblume‹ vorbeizuschauen, um mit Marianne zu sprechen, widerstand er. Zu vieles ging ihm im Kopf herum, das nach Klärung verlangte. Vielleicht wollte Marianne gar nicht mehr mit ihm sprechen, mit einem Mann, der angefangen hatte, für die Polizei kein unbeschriebenes Blatt mehr zu sein.
In der Küche brannte Licht. Das war durch die Milchglasscheiben der Tür zu sehen. Wilhelm wollte feststellen, ob Frau Krupinsky vielleicht vergessen hatte, das Licht auszumachen. Das war schon mal vorgekommen. Doch Frau Krupinsky saß am Küchentisch, die längst erkalteten Reste eines Abendessens und eine Flasche Likör vor sich. Überrascht grüßte Wilhelm und fügte hinzu: »Ich bitten um Entschuldigung für Störung. Ich denken, daß vielleicht niemand mehr sein in Küche.«
Frau Krupinsky blickte ihn aus Augen, die nicht mehr ganz klar waren, an und sagte dann, auf einen zweiten Stuhl am Tisch zeigend: »Setzen Sie sich doch.«
Während Wilhelm zögernd Platz nahm, stand sie selbst auf, holte ein zweites Likörglas aus dem Küchenschrank und goß es voll für Wilhelm.
»Zum Wohle«, sagte sie dann und hob ihm ihr eigenes entgegen.
Wilhelm fragte, ob sie Geburtstag habe. »Wenn haben Sie«, meinte er, »dann ich gratulieren.«
Frau Krupinsky hatte nicht, sie schüttelte den Kopf. Es war überhaupt kein freudiger Anlaß, der sie dazu bewogen hatte, der Likörflasche den Hals zu brechen.
»Ich mußte an meinen Hennes denken«, verriet sie.
Hennes war der Mann, der ihr zwanzig Jahre früher seinen Familiennamen geschenkt hatte und vor acht Jahren einem Grubenunglück zum Opfer gefallen war. Seine Witwe hatte inzwischen knapp das einundvierzigste Lebensjahr erreicht. Das Andenken an ihn pflegte sie immer noch, gerade in Stunden, in denen er ihr besonders fehlte. Das war oft an Samstagen oder Sonntagen der Fall, an Tagen also, die seitens der Werktätigen erfahrungsgemäß eine gesteigerte Nutzung zur Pflege der körperlichen Liebe erfahren.
Und heute war Samstag. Welche Komplikationen sich daraus für ihn ergeben konnten, ahnte Wilhelm nicht. Er sollte es aber erfahren.
»Mein Hennes«, sagte Frau Krupinsky, »war der beste Mann, den man sich vorstellen kann. Er wäre jetzt sechsundvierzig. Mit sechsundvierzig sind zwar manche schon kaputt, besonders solche aus der Grube, aber nicht alle. Nicht weit von hier bekam vorige Woche ein Fünfundvierzigjähriger Zwillinge, verstehen Sie. Nicht anders wäre das bei meinem Hennes, wenn er noch am Leben wäre. Das weiß ich ganz bestimmt. Er hat ja auch nie – oder nur selten – zuviel getrunken, um das erfüllen zu können, was einer Ehefrau schon durch die Bibel zusteht. Sie verstehen? Alkohol schadet diesbezüglich, das kann ich aus persönlicher Erfahrung sagen, weil mir die Frau des
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