Gluecklich, wer vergisst
sich zu uns.
„Lass mich reden“, bat ich Jan leise.
„Deiner Mutter scheint es zum Glück besser zu gehen. Gustav hat sie heute besucht und fand sie ziemlich aggressiv. Ich bin froh, dass sie ihre Wut verbal rauslässt. Bei meinem ersten Besuch hatte ich eher den Eindruck, sie könnte depressiv werden“, gab ich meine neuesten Informationen sofort an meinen Neffen weiter.
„Wäre kein Wunder. Ich würde es keinen Tag im Knast aushalten. Ich glaube, ich würde mich aufhängen, so wie mein Großvater …, ich meine, mein früherer, nein … mein angeblicher …“
„So wie der Baron, meinst du“, sagte ich und legte beschwichtigend meine Hand auf seinen Arm. „Hast du deiner Mama gegenüber mal erwähnt, dass du dich eher umbringen würdest, als ins Gefängnis zu gehen?“
Er zuckte mit den Schultern. „Kann sein. Warum?“
„Nicht so wichtig“, murmelte ich.
„Hat Philip dich auch misshandelt?“
Er zögerte. „Ich kann mich, ehrlich gesagt, nicht erinnern. Meine Kindheit ist so weit weg. Vielleicht habe ich hin und wieder mal eine Ohrfeige von ihm kassiert. Richtig geprügelt hat mich, glaube ich, nur meine Großmutter. Sie war furchtbar streng.“
Mario war Philip bestimmt viel zu anstrengend gewesen. In den harten Phasen des Trinkens kann ein Alkoholiker keine Rücksicht auf ein Kleinkind nehmen. Entweder schlägt er es tot oder er beachtet es gar nicht, dachte ich.
„Warst du an jenem verhängnisvollen Abend wirklich nicht oben im Schloss? Bitte sei ehrlich“, sagte ich zu Mario.
„Du meinst, als Philip ermordet wurde? Nein, ich hatte hier volles Haus. Das habe ich dir doch gesagt.“
„Irgendjemand behauptet, deinen BMW ungefähr zur Tatzeit vorm Schloss gesehen zu haben.“
„Das mag schon sein. Ich lasse den Wagen manchmal oben stehen.“
„Als die Polizei eintraf, stand er nicht mehr dort“, sagte ich.
„Vielleicht hat ihn jemand anders benützt. Der Zweitschlüssel hängt in der Küche am Brett. Wir behandeln unsere Autos nicht wie heilige Kühe. Jeder fährt mit dem Wagen herum, der gerade zur Verfügung steht.“
„Wer soll damit gefahren sein? Albert schlief angeblich. Walpurga, Doktor Braunsperger und deine Mutter waren im Salon.“
„Vielleicht Heinz? Er hing fast täglich bei uns herum. Vor allem seit er mir beim Umbau der Orangerie geholfen hatte, galt er fast als Familienmitglied, ging bei uns ein und aus, wann er wollte, hat mit uns gegessen und in irgendeinem der vielen leeren Zimmer übernachtet, wenn er sich zugedröhnt hatte. Und er benutzte nicht nur Walpurgas alten Passat, sondern fuhr natürlich noch lieber mit meinem BMW spazieren. Er hatte ja keinen eigenen Wagen mehr.“
Diese Möglichkeit hatte ich bisher noch nicht in Betracht gezogen. Nachdenklich zündete ich mir eine Zigarette an und bat Mario um ein Achtel Weiß.
Ich war fast froh, dass er sich nicht mehr zu uns setzte, als er mir den Wein brachte. Ich wollte in Ruhe nachdenken. Die Musik störte mich nicht, im Gegenteil, die laute Geräuschkulisse schluckte die Gespräche am Nebentisch.
Ich saß eine ganze Weile einfach nur da, nippte an meinem Glas, rauchte ein paar Zigaretten und malte mir neue Mordszenarien aus.
Meine Gedanken kreisten immer wieder um Heinz. Mir wollte beim besten Willen kein Motiv einfallen. Warum sollte dieser arme Fischer Philip Mankur umgebracht haben? Das ergab alles keinen Sinn.
Jan, der die ganze Zeit über schweigend neben mir gesessen hatte, sagte: „Dein Neffe ist ein ausgesprochen sympathischer junger Mann. Aber wir wissen beide, dass gerade diese netten, freundlichen Typen oft sehr jähzornig sein können. Und der liebe Mario hatte allen Grund, Philip zu hassen, nicht nur, weil er ihm das Geld für die Renovierung der Bar verweigert hatte. Natürlich hasste er den Vergewaltiger seiner Mutter und seinen potentiellen Vater aus tiefster Seele.“
„Ich bin mir dessen nicht mehr so sicher“, sagte ich leise. Inzwischen dachte ich, dass dieser Hintern, den ich damals im Bootshaus gesehen hatte, zu fast jedem erwachsenen Mann im Umkreis der Familie Mankur-Welschenbach gehört haben konnte.
Sommer 1979
Am späten Nachmittag sitzen Franzi, Joe und Albert auf der Terrasse des Schlosses und lesen. Der Himmel ist bewölkt. Die Luft ist warm.
Plötzlich wirft Franzi ihre Jugendzeitschrift auf den Boden und setzt sich auf den Schoß ihres Bruders. Der Liegestuhl kracht bedenklich unter der doppelten Last.
Mit knallrotem Kopf legt Albert sein Buch aus der
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