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Glückliche Ehe

Glückliche Ehe

Titel: Glückliche Ehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Klett-Cotta Verlag
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nicht, um ein erklärtermaßen letztes Gespräch zu führen. Sie deuteten an, dass sie bis zum Ende jeden Tag aus Great Neck herüberkommen wollten. In einem der wenigen Augenblicke, die er mit Margaret allein hatte, sprach Enrique die Frage beunruhigt an. Sie zog die aufgemalten Augenbrauen hoch und erklärte: »Kommt nicht in Frage. Keine Sorge.«
    Aber er machte sich Sorgen. Mit jeder Stunde, die verging, blieb ihm weniger Zeit mit seiner Frau. Ihrer Familie einen zweiten Tag zuzugestehen bedeutete für ihn, bis auf ein paar leise, liebevolle Worte, bevor sie ihr Ativan für die Nacht bekam, einen weiteren Tag mit ihr hergeben zu müssen. Am Vorabend waren vier alte Freundinnen von Margaret auf ein letztes Sekt- und Kaviarstündchen mit ihr erschienen und dann ewig geblieben. Heute Abend würdenLily und Paul kommen, noch so ein emotionaler, schwieriger Abschied, der Margaret dermaßen erschöpfen würde, dass sie ihren medikamentös induzierten Schlaf herbeisehnte. Also wieder ein Tag – einer von ganzen acht, die ihnen noch blieben –, an dem er zwar in der Nähe seiner Frau sein würde, ohne ihr aber wirklich nah sein zu können.
    Stattdessen war er jetzt allein mit ihrem kleinen Bruder Larry, jetzt ein Mann in den mittleren Jahren mit um sich greifender Glatze. Zweimal hatte er, während Margaret ihn hütete, Verletzungen erlitten: eine Gehirnerschütterung, als sie dem Sechsjährigen das Radfahren beibringen wollte, und einen Armbruch beim Rollschuhlaufen auf der Zufahrt zum Utopia Parkway. Enrique war immer der Meinung gewesen, dass die schwesterliche Fürsorge für Larry, trotz der Unfälle, Margaret befähigt hatte, ihren kleinen Söhnen eine so fröhliche, energiegeladene Mutter zu sein. Wenn er beobachtet hatte, wie sie mit dem Elan einer Ferienlagerbetreuerin mit den Jungen raufte oder seine manchmal recht mürrischen Sprösslinge zum Kichern brachte, hatte er das Gefühl gehabt, die Teenagerin vor sich zu sehen, die Margaret, die ihr kleiner Bruder so sehr vergötterte, dass er ihr all seine Schmerzen verzieh. Er fürchtete das, was auf seine Söhne nun zukam, und hatte Angst, sie nicht trösten zu können. Er beruhigte sich damit, dass ihnen sich jene Stunden fröhlicher Balgerei mit ihrer Mutter eingeprägt hatten – nicht nur als glückliche Erinnerungen. Die Jungen hatten die mütterliche Freude darüber gespürt, sie hervorgebracht zu haben – eine positive Grundlage, die es ihnen ermöglichen würde, eines Tages über diesen grausamen Verlust hinwegzukommen.
    Enrique war von einer unglücklichen, nervösen, ängstlichen Frau aufgezogen worden. Er fragte sich, ob er sich auch deshalb in Margaret verliebt hatte, weil er für seine Söhne eine mütterlichere Mutter gewollt hatte. Seinerschriftstellerischen Phantasie gefiel die Vorstellung, dass er sie nicht nur wegen ihrer sommersprossigen weißen Haut und ihrer leuchtend blauen Augen erwählt hatte – eindeutige Zeichen dafür, dass sie andere Resistenzen hatte als er mit seiner olivfarbenen Haut und seinen braunen Augen –, sondern auch wegen der liebevollen und zugleich gelassenen Art, wie sie von ihrem kleinen Bruder Larry erzählt hatte. Bei zahllosen cohenschen Seder- und Thanksgiving-Treffen hatte er bemerkt, wie treu ergeben Larry seiner Schwester immer noch war und wie sehr er sie nach wie vor liebte. Er fragte sich, ob der gestandene Mann Larry wusste, welchen Anteil er an Enriques geglückter Fortpflanzung hatte. Und er fragte sich auch, ob Margarets kleiner Bruder besser als er selbst verstand, wie es sich für die Jungen anfühlte, eine so vitale, lebenslustige und mutige Mutter zu verlieren.
    Enrique überlegte, was er Larry fragen konnte, ohne ihm zu viel zuzumuten, eine Frage, die ihm aber gleichzeitig seine besondere Rolle im Leben seiner Schwester deutlich machte. »Und? Hast du Margaret deinen gebrochenen Arm und die Gehirnerschütterung verziehen?«, fragte er, fand seine Lösung aber ziemlich schwach.
    Einen Moment schien Larry nicht fähig, darauf zu antworten. Dann aber sagte er: »Sie war eine tolle große Schwester. Es war immer so lustig mit ihr.« Tränen stiegen ihm in die Augen und rannen ihm übers Gesicht, als wäre er immer noch ein kleiner Junge, für den der Zugang zu seinen Gefühlen etwas ganz Selbstverständliches war. »Ich weiß, wir witzeln immer über diese Unfälle, aber es war nicht ihre Schuld. In Wirklichkeit habe ich mich mit ihr immer sicher gefühlt. Egal wo. Ich war so gern mit ihr zusammen.«

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