Glücksfall
Nachmittag.«
»Wie kam er Ihnen vor?«
»Als hätte er viel zu tun, mit den Proben. Ein bisschen gestresst, aber das ist ja normal.«
»Hat er das früher manchmal gemacht? Einfach so verschwinden?«
»Nein. Nie.«
»Sollten Sie nicht die Polizei einschalten?«
»Aber John Joseph hat gesagt, die Polizei interessiere sich nicht dafür.«
»Vielleicht sollten Sie es trotzdem versuchen.«
Sie senkte den Blick auf die gelb-weiß karierte Tischdecke. »Ich weiß nicht. Ich muss mit Waynes Dad sprechen.« Sie klang wieder, als wäre sie den Tränen nah.
Mit ihren goldenen Ohrringen und dem Becher mit der Aufschrift »Die beste Oma der Welt« sah Carol Diffney aus, als könnte sie kein Wässerchen trüben. Aber konnte man es wissen? Mutterliebe und so – eine Mutter würde doch alles tun, um ihren Kindern zu helfen, oder?
»Ist es möglich, dass Wayne in kriminelle Machenschaften verwickelt ist?«, fragte ich.
»Auf gar keinen Fall!« Darin schwang ihre Mittelschichtsempörung: »Mein Sohn doch nicht!«
»Gut. Aber möchten Sie nicht, dass er gefunden wird? Ma chen Sie sich denn keine Sorgen um ihn? Immerhin ist er seit vier Tagen verschwunden.«
Nach langem Schweigen sah sie mich an. »Wayne ist ein guter Junge, ein ehrlicher Mann. Wir, seine Familie, wir wissen, dass er am Mittwoch auf der Bühne stehen wird. Wir wissen, dass er seine Freunde nicht im Stich lassen wird.«
Ich griff ihre Worte auf. » Woher wissen Sie das? Hat er Ihnen das gesagt?«
»Nein. Wir wissen es, weil wir ihn kennen. Er lässt seine Freunde nicht im Stich.«
»Verstehe …« Leugnete sie die Tatsachen, oder sprach sie die Wahrheit?
»Ich weiß, dass Sie dafür bezahlt werden, ihn zu finden, aber wenn Sie ihn beschuldigen, in kriminelle Machenschaf ten verwickelt zu sein, dann möchte ich Sie bitten: Lassen Sie Wayne in Ruhe.«
Lassen Sie Wayne in Ruhe. Das waren genau die Worte, die der Schläger von Old Dublin Town zu mir gesagt hatte. Und diese Frau hier, diese freundliche Hausfrau, hatte bestimmt ein Nudelholz, eins von diesen modernen weißen, die ein bisschen wie ein Schlagstock aussahen.
»Sie waren das!« Ich zeigte mit dem Finger auf sie. »Sie haben mich geschlagen!« Ich schob mir die Haare aus der Stirn und zeigte meine Verletzung in ihrer ganzen dunkellila Pracht. »Da – das haben Sie gemacht!«
»Aber … ich bitte Sie!« Sie war so entsetzt, dass ich dachte, sie würde gleich ohnmächtig. »Ich habe in meinem Leben niemanden geschlagen. Außer den Kindern, als sie klein waren, und damals war das ja üblich. Jetzt kommt man gleich wegen Kindesmisshandlung ins Gerede, aber damals galt ein kleiner Klaps hin und wieder als ganz normal.«
»Aber derjenige, der mich geschlagen hat, hat genau das Gleiche gesagt: ›Lassen Sie Wayne in Ruhe.‹«
Mit unsicherer Stimme sagte sie: »Ich kann Ihnen versichern, dass ich das nicht war.«
Ich war nicht vollständig überzeugt. Ich sah sie durchdringend an, sie wand sich unter meinem Blick, brach aber nicht ein, also versuchte ich es anders. »Wer ist Gloria?«
»Gloria?« Carols Stimme zitterte. »Ich habe ihn nie von einer Gloria sprechen hören.«
»Mir scheint es aber doch so.«
»Nein, bestimmt nicht.«
»Sagen Sie mir bitte, wo Wayne ist.«
»Ich weiß nicht, wo er ist. Das ist die Wahrheit. Bitte stellen Sie mir keine Fragen mehr«, sagte sie leise und würdevoll. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie jetzt gehen würden.«
»Mrs. Diffney?« Ich war unentschlossen – sollte ich sie respektvoll als Mrs. Diffney anreden oder vertraulich mit ihrem Vornamen, Carol, und entschied mich für beides. »Mrs. Diffney, Carol, wenn ich Sie so nennen darf? Es ist noch ein anderer auf der Suche nach Wayne, ein anderer Privatdetektiv. Ein Mann, und er ist nicht nett, nicht so wie ich. Er wird Wayne finden und bloßstellen. Wenn ich ihn als Erste finde, kann ich ihm vielleicht helfen.«
Aber Carol gab nicht nach. Falls sie etwas wusste, konnte ich es nicht erspüren, und das war ein seltsames und befremdliches Gefühl. Wieder bat sie mich zu gehen.
Unsere Konfrontation wurde von einem Geräusch an der Haustür und einer Frauenstimme unterbrochen, die sagte: »Mum, ich bin’s, ich kam gerade vorbei. Wem gehört denn der schwarze Wagen draußen?«
Eine Frau, die ich von dem Video von Carols fünfundsechzigstem Geburtstag erkannte, wurde in die Küche geweht. Es war Waynes Schwester Connie. Als Rowan mit der Kamera ins Zimmer kam, saß sie mit Waynes Schwägerin Vicky bei
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