Glücksfall
nie.«
»Wie viele Stunden meines Lebens habe ich bei euren miesen Theateraufführungen in der Schule vergeudet oder bei langweiligen Ballettabenden oder grauenvollen Sportfesten? Bei fünf Kindern sind das Jahre meines Lebens, Jahre , sage ich dir, und ich bitte um einen einzigen Abend …«
Das reichte. »So reizend es auch ist, nachts um drei an der Treppe zu stehen und deinen Beschwerden zu lauschen, aber ich habe zu tun.«
»Also gut«, sagte sie pikiert. »Entschuldige bitte, dass ich dir deine kostbare Zeit gestohlen habe.« Sie ging wieder nach oben, der Rücken steif in vorwurfsvoller Haltung.
»Hast du keine Freundinnen, mit denen du in das Laddz-Konzert gehen kannst«, rief ich ihr hinterher.
»Die sind alle tot.«
Sie verschwand im Schlafzimmer, und ich hatte den Wunsch, sie zurückzurufen. Ich wollte mit jemandem sprechen, darüber, wie seltsam es war, Jay Parker wiederzusehen, und dass wir ganz nah an dem Ort vorbeigefahren waren, wo Bronagh gewohnt hat, und wie traurig das war. Aber Mum hatte Bronagh nie gemocht. Als sie sich das erste Mal begegneten, hatte Mum dagestanden wie vom Donner gerührt. Ihr Blick mit weit aufgerissenen Augen war von mir zu Bronagh und wieder zurück gewandert, als stünde sie unter Schock, und man konnte praktisch ihre Gedanken lesen: »Ich dachte, ich hätte das schwierigste Kind, das eine Mutter haben kann, aber hier ist tatsächlich ein noch schlimmeres.«
War Bronagh wirklich schlimmer als ich? Ich hätte gesagt, wir waren einander ebenbürtig. Manchmal gelang es mir, dass ihre Augen mit purer Bewunderung an mir hingen, aber es bestand kein Zweifel, sie legte die Messlatte sehr hoch. Zum Beispiel bei unserer ersten Begegnung.
Es war ein Sommertag vor ungefähr sechs Jahren, und ich kämpfte mich auf der Grafton Street voran, schlängelte mich durch die Fußgängermengen und ärgerte mich über jeden Einzelnen, der nicht exakt im gleichen Tempo ging wie ich. »Herr im Himmel«, brummelte ich vor mich hin, »könnt ihr nicht einfach weitergehen? Das kann doch nicht so schwer sein.« Berechtigterweise unwirsch zu sein gefiel mir sehr gut, so gut, dass ich einen Moment nicht aufpasste und jemand wie aus dem Nichts kommend plötzlich vor mir auftauchte. Nicht irgendjemand, sondern ein Mann mit langen blonden Dreadlocks; er trug ein Klemmbrett bei sich und hatte eine Weste mit dem Namen einer Wohltätigkeitsorganisation an.
Er ging rückwärts vor mir her und hatte die Arme weit ausgestreckt. »Sprich mit mir, he du, sprich mit mir. Zehn Sekunden?«
Ich senkte den Kopf. Blickkontakt war tödlich. Ich war wütend auf mich selbst, weil ich mich in den Dunstkreis des Wohltätigkeitsmenschen hatte ziehen lassen. Ich hätte es kommen sehen und mich dagegen wappnen müssen. Ich betrachtete es sogar als ein Zeichen persönlichen Versagens, dass dieser Typ in mir überhaupt eine mögliche Kandidatin sah.
Ich wich zur Seite hin aus, und er machte die Bewegung mit, als wären wir durch eine Nabelschnur miteinander verbunden. Ich duckte mich nach links, er duckte sich ebenfalls, mit einer beinahe tänzerischen Anmut. Langsam stieg Panik in mir auf. »Also gut, ich mache dir einen Vorschlag«, sagte der Typ. »Du gibst mir fünf Sekunden? Du hast fantastische Schuhe, weißt du das? Hörst du mir zu? Diese Sportschuhe sind echt krass . Warum sprichst du nicht mit mir?«
Mit beinahe übermenschlicher Anstrengung riss ich mich aus seinem Kräftefeld und sprang zur Seite, um ihn aus sicherer Entfernung zu verfluchen, und er rief hinter mir her, sodass halb Dublin es hörte: »Damit du dir noch ein Paar Sportschuhe kaufen kannst, das du nicht brauchst, aber zwei Euro pro Woche, um einem gelähmten Esel zu helfen, kannst du nicht aufbringen, was? Du tust mir wirklich verdammt leid.«
Ich bedauerte zutiefst, dass ich das Geräusch nicht beherrschte, das manche Leute von sich geben, wenn sie eine Verwünschung aussprechen. Ich hätte damals, als es mir passierte, einfach besser aufpassen sollen. (Weil ich einer Frau mit einem Furcht einflößenden Lächeln und einem karierten Kopftuch keine Glückserika abkaufen wollte, schüttete sie mit hypnotisch klingender, kehliger Stimme einen Schwall übler Verwünschungen über mir aus.)
Noch während ich überlegte, ob ich trotzdem versuchen sollte, ihm mit einem Zauberspruch Angst einzujagen, wandte sich der Wohltätigkeitstyp jemand anderem zu – wegen der kurzen Haare und der schmalen Figur dachte ich zunächst, es sei ein Junge. Aber
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