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Glücksfall

Glücksfall

Titel: Glücksfall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marian Keyes
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Bilanzen lesen und hatte einen Universitätsabschluss in Steuerrecht.
    »Er ist ein guter Typ«, sagte man mir. Und – mit mehr Nachdruck: »Er sieht richtig gut aus, sehr, sehr sexy.«
    Der allgemeinen Meinung nach war er ein Gesetzesvollstrecker der besonderen Klasse, und bei so viel Achtung und Bewunderung, die ihm allseits entgegengebracht wurde, war er mir suspekt, bevor ich ihn überhaupt kennenlernte.
    Aber die Tage vergingen, und ich hatte immer noch keinen Zugriff auf die finanziellen Machenschaften des betrügerischen Ehemanns, sodass ich schließlich doch Artie Devlin anrief und ihn um einen Gefallen bat, worauf er sagte, er habe am nächsten Donnerstag eine Stunde Zeit.
    Wir trafen uns an seinem Arbeitsplatz, der sich keineswegs in einer Polizeistation befand, sondern in einem Großraumbüro, in dem lauter lässig gekleidete Menschen an Schreibtischen saßen und auf Bildschirme mit Zahlenkolonnen starrten. Dicke Wälzer über Steuerrecht und Rechnungswesen lagen überall herum, aber die Menschen (in der Mehrzahl Männer, zugegeben) waren fit und muskulös, wie Superhelden des Steuerrechts. (»Ruf den Bilanzen-Boy her!«) (»Da müssen wir den Algorithmen-Typen holen.«)
    Artie hatte ein verglastes Eckbüro. Er war groß und gut aussehend und zurückhaltend – und extrem präzise in seiner Wortwahl bei der Vermittlung von Informationen, so wie Polizisten eben sind, auch die ohne Schlagstock. Trotz seiner Professionalität hatte er etwas Ungezähmtes, etwas Wildes an sich, oder vielleicht war er einfach nicht dazu gekommen, sein Oberhemd zu bügeln.
    Er fragte, ob ich einen Kaffee wollte.
    »Ich halte nicht viel von warmen Getränken«, sagte ich. »Außerdem gibt es viel zu besprechen. Fangen wir an.«
    Einen Moment lang sah er mich an. »Gut«, sagte er schließlich, »fangen wir an.«
    Ich wuchtete meinen dicken Ordner auf den Schreibtisch, und er ging die Dokumente durch und erklärte mir, was es mit Offshore-Banken und Nummernkonten und anderen schändlichen Praktiken auf sich hatte.
    Es war ziemlich kompliziert, aber nach einer Weile begriff ich, worum es ging. Und sofort wurde ich übermütig. »Sagen Sie mal«, sagte ich zu Artie Devlin. »Fahren Sie eigentlich oft auf die Kaimaninseln?«
    Er hob den Blick von dem Ordner, sah mich mit seinen blauen Augen an und sagte, ein wenig widerwillig: »Ich war einmal da.«
    »Sind Sie da so braun geworden?«
    Nach einer Pause sagte er: »Nein.«
    Ich sah ihn mir gründlich an. Er hatte nicht die schreckliche, typisch irische Haut, die nicht braun wird, sondern einfach nur sommersprossiger (ich weiß, wovon ich rede). Im Gegenteil, er hatte wunderschöne Haut – wie Schweden sie haben –, die von der Sonne golden wird. »Schien die Sonne nicht?«, fragte ich.
    »Ich habe gearbeitet«, sagte er.
    Dann wurde ich von einem Foto auf seinem Schreibtisch abgelenkt. Drei blonde Kinder, die alle so aussahen wie er.
    »Ihre Nichten und Neffen?«, fragte ich.
    »Nein, das sind meine Kinder.«
    Zu erfahren, dass er Kinder hatte, war eine große Überraschung (von der sehr unangenehmen Sorte). Das hatte mir niemand erzählt. Außerdem sah er nicht danach aus. Im Gegenteil. »Sie sehen eher nach … ›Ärzte ohne Grenzen‹ aus.«
    Er reagierte nicht auf meine Bemerkung, aber ich fuhr trotzdem fort. »Sie wissen schon – jemand, der ab und zu einen Adrenalinschub braucht und glücklicher in einem improvisierten Zelt in einer Kriegszone ist, wo er im Schein einer Sturmlaterne Arme und Beine amputiert, statt in einem Vorort mit einer Familie und Kindern.«
    »Nein«, sagte er. »Arme und Beine habe ich noch nie amputiert.«
    Es entstand ein seltsames Schweigen, und ich machte mich gerade bereit zu gehen, als er unerwartet gesprächig wurde. »Um ehrlich zu sein«, sagte er, »ich habe mir immer vorgestellt, dass die Leute bei ›Ärzte ohne Grenzen‹ einen verborgenen Todeswunsch haben.«
    »Wirklich?«
    »Verstehen Sie mich nicht falsch, was sie tun, ist gut, sehr gut sogar, aber was ist daran auszusetzen, wenn man in einem Vorort wohnt und eine Familie hat?«
    »Viel«, sagte ich. »Sehr viel.«
    »Nein«, beharrte er. »Es ist zweifellos besser, als seine Lebenserfüllung darin zu finden, dass man Menschen wieder zusammennäht, während einem die Kugeln um den Kopf pfeifen.«
    »Richtig«, sagte ich. »Genau.« Offen gestanden war ich von ihm, von seiner Gesprächigkeit einerseits und seiner Festigkeit andererseits, plötzlich sehr eingenommen.
    »Sagen Sie«,

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