Glückskekssommer: Roman (German Edition)
ich.
Vicki zuckt die Schultern. »Keine Ahnung«, sagt sie. »Weil ihres anscheinend zu langweilig ist?«
Auch wenn es mir schwer fällt, so glaube ich doch, dass Vicki nicht ganz unrecht hat. Die Tatsachen sprechen gegen Lila. Davon abgesehen, dass ich an allem schuld bin. »Sie hat die Stelle ja nur, weil ich das Kleid versaut habe und meinen Freund hat sie, weil ich mich nicht um ihn gekümmert habe und um sie auch nicht. Sie hatte so viel Kummer wegen der Lehrstelle, weil sie nur putzen musste, und ich durfte für Eva Andrees ein Kleid nähen. Aber mir war das egal. Ich habe nur an mich gedacht.«
Vicki hört mir geduldig zu. Aber ich sehe ihr an, dass meine Argumente sie kein bisschen überzeugen.
»Du solltest Anwältin werden«, sagt sie entspannt. »Die verteidigen auch die größten Ganoven. Also weiter: Hast du schon mal darüber nachgedacht, warum dein Filmnacht-Kleid gerissen ist?«
»Ja, was glaubst du denn?«, frage ich. »Ich konnte tagelang an nichts anderes denken, und das Schlimme ist, ich habe keine Ahnung.«
»Das dachte ich mir«, sagt Vicki. Sie schaut mich auf einmal mit einem ganz liebevollen Blick an. »Du bist so gutmütig, dass es wehtut. Erzähl mal. Wie lange bist du jetzt Schneiderin?«
»Na, drei Jahre Lehrling, Schneiderin erst ein paar Wochen.«
»Wie oft ist in dieser Zeit etwas kaputtgegangen, was du genäht hast?«
»Nie.« Darüber muss ich keine Sekunde nachdenken. Ich weiß es.
»Und?«
»Was – und?«
»Jens, ich brauch noch einen Kaffee!«, ruft Vicki quer durch das ›Schraders‹. Dann wendet sie sich wieder mir zu. »Mensch, Rosa, das ist Schwerstarbeit mit dir, weißt du das?«
Ganz allmählich wird mir klar, worauf Vicki hinauswill. Aber sie irrt sich. Dass sie Lila solcher Gemeinheiten verdächtigt, liegt daran, dass sie meine beste Freundin noch nie ausstehen konnte.
»Vicki, ich glaube, du bist sauer auf Lila und deshalb willst du sie schlechtmachen. Sie macht nichts kaputt, was andere genäht haben. Das … Das wäre gegen die Schneiderehre.« Ich sage es mit großem Pathos. Aber in mir meldet sich eine leise Stimme, die sagt, dass Vicki recht haben könnte. Ich weiß genau, wie sorgfältig ich das Kleid gearbeitet habe.
Irgendjemand muss die Naht eingeschnitten haben, sodass es zuerst noch hielt, aber nach und nach aufriss. Aber wer? Und vor allem – warum? Mir wird schwarz vor Augen.
»Du hast eine ziemlich einseitige Sicht auf die Dinge«, höre ich Vicki wie durch Nebel sagen. »Lila ist in deinem Kopf so eine Art Heilige, und das verbaut dir den Blick auf die Wahrheit.«
Äußerlich ruhig sitze ich auf meinem Lieblingssofa, in meinem Lieblingsrestaurant, esse schokoladenhaltige Nervennahrung, höre Vicki zu und ertränke Amaretti in meinem Kaffee. Aber innen drin fühlt es sich so an, als ob alles zusammenstürzt, an was ich bisher geglaubt habe. Sollte Lila wirklich Schuld an meiner Misere haben?
Ich sehe, dass Vicki mich beobachtet. Dann gießt sie noch etwas Öl ins Feuer. »Erinnerst du dich noch an Daniel?«, fragt sie mich.
Vor meinen Augen baut sich ein Bild auf: Ein nicht ganz schlanker 16-Jähriger mit blonden Locken und Aknepickeln, ein Possenreißer und außerdem der einzige Junge an der Schule, der sich mehr für Weltraumfernsehserien als für Mädchen begeisterte, was meines Erachtens aber daran lag, dass die Mädchen sich nicht für ihn begeisterten.
»Ja klar! Ihr zwei habt immer Spiderman-Comics getauscht.« Zum ersten Mal an diesem Morgen lache ich. Als ich Vickis Blick sehe, vergeht es mir jedoch. »In den warst du verliebt damals, oder?«
Sie nickt. »Aber nicht Spiderman«, sagt sie und verdreht die Augen. »Das waren MAD-Magazine. Du hast noch immer von nix eine Ahnung.«
Na, meinetwegen. Comics haben mich noch nie interessiert.
Jedenfalls sieht Vicki jetzt auch trübsinnig aus.
»Magst du mal abbeißen?«, frage ich. Ich halte ihr mein Croissant hin. Sie wehrt entsetzt ab.
Mir fällt plötzlich die ganze uralte Geschichte wieder ein.
Es passierte, als wir alle noch auf dem Gymnasium waren.
Lila, Vicki und ich waren zwar in einer Klasse und fuhren jeden Morgen mit dem Zug vom Dorf in die Stadt zur Schule, aber Vicki saß nie mit uns im Zugabteil, geschweige denn auf einer Bank. Sie gab sich distanziert. Stattdessen vergrub sie sich in ihre Bücher oder Comichefte und ging uns aus dem Weg, so gut sie konnte.
Auch in der Schule konnte sie kaum jemand leiden. Sie war Klassenbeste. Jeder wollte gern die
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