Glückskekssommer: Roman (German Edition)
Hausaufgaben bei ihr abschreiben. Aber niemand lud sie auf Partys ein oder wollte bei Klassenfahrten das Zimmer mit ihr teilen. Sie war ein dicklicher, kurzsichtiger, aber mit sich selbst zufrieden wirkender Bücherwurm, der keinen Deut darauf gab, was gerade ›in‹ oder ›out‹ war.
Lila spottete bei jeder Gelegenheit über sie. Sie war es auch, die damit anfing, sie ›Fick-toria‹ oder einfach ›Ficki‹ zu nennen. Irgendwann rief die ganze Schule sie so. Vicki tat, als wäre es ihr egal. Aber sie setzte nach und nach immer mehr ›Kummerspeck‹ an. Ein dicker Schwimmring wölbte sich über ihren Hosenbund und beim Dauerlauf schnaufte sie immer als Letzte ins Ziel. In den Pausen saß sie meist allein auf einer Schulhofbank und las. Bis sich eines Tages Daniel zu ihr gesellte. Zuerst ging sie nicht auf ihn ein. Aber er gab nicht auf. Nach und nach begann sie, ihm zu vertrauen.
»Da hat sich ein hübsches Paar gefunden«, spottete Lila.
Ich weiß noch, dass Vicki mir meist egal war. Meine Noten waren gut. Ich hatte es nicht nötig von ihr abzuschreiben. Und ihre Freundschaft mit dem dicklichen Daniel fand ich irgendwie süß. Die meisten von uns waren damals viel auf Partys, probierten Alkohol, Küssen und Fummeln aus. Daniel und Vicki, die beiden Außenseiter, saßen auf der Schulbank, tauschten Bücher, teilten ihr Pausenbrot miteinander und lasen sich kichernd gegenseitig aus Comics vor.
»Guck dir das an«, schrie Lila eines Tages.
Sie fuchtelte wie wild mit dem Finger in der Luft herum. Wir waren gerade aus dem Zug gestiegen. Vor uns liefen Daniel und Vicki. Ich konnte nichts Ungewöhnliches daran entdecken, bis ich sah, dass die beiden sich an den Händen hielten.
»Die sind zusammen«, fauchte Lila. »Die dicke Vicki mit dem Pferdehintern hat einen Freund.«
»Ich finde, die passen zusammen«, sagte ich.
»Das passt mir nicht«, schimpfte Lila.
Ich lachte mich halb schief. »Wieso? Willst du Pickel-Dani etwa haben?«
»Du kapierst gar nichts«, wütete Lila weiter.
So langsam begriff ich, dass sie es wirklich ernst meinte.
»Ich meine, die hässliche Kuh hat einen Freund und wir nicht!«
»Na und?«, antwortete ich und zeigte Lila einen Vogel. »Dafür hat sie auch drei Meter dicke Brillengläser und ist ein riesengroßes Trampeltier. Ist doch schön, wenn sie jemanden gefunden hat.«
Lila schaute mich von der Seite an und sagte gar nichts mehr.
Ich dachte, die Sache wäre damit erledigt, bis wir mal wieder ›sturmfreie Bude‹ hatten.
Unsere Eltern waren mit Oma und Opa verreist. Lila und ich sollten die zahlreichen Haustiere hüten, was wir gern taten. Aber natürlich nutzten wir die Gelegenheit auch, um mal wieder ausgiebig und ohne Aufsicht zu feiern. Wir luden alle unsere gemeinsamen Freunde ein. Ich staunte allerdings nicht schlecht, als Lila sich in der großen Pause zu Daniel stellte.
»Hast du morgen schon was vor, Dani-Sahne?«
»Äh, wieso?«
»Rosa und ich schmeißen eine Party«, flötete sie. »Magst du vorbeikommen?«
Daniel schaute misstrauisch. »Sicher?«
»Klar!« Sie strahlte ihn mit ihrem verführerischsten Lächeln an. »Bringst du ein paar CDs mit?«
»Mach ich«, antwortete er und lächelte jetzt auch. »Vicki hat auch ein paar coole Scheiben.«
»Vicki?«
Jetzt kapierte ich, was Lila plante und zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich nicht eingriff.
»Na, Vicki kommt auch mit. Ich … Wir … sind doch zusammen.«
Es war rührend, wie er verlegen von ihrer Beziehung sprach.
»Entweder du bringst sie mit und brichst mein Herz«, sagte Lila und zog einen Schmollmund, »… oder du kommst allein und es wird ein Abend, den du nie vergessen wirst.«
Jetzt lächelte sie wieder und griff tatsächlich nach Daniels Hand. Es war ein Weltklasseschauspiel. Einen Moment lang glaubte sogar ich, sie sei in ihn verliebt.
Er glaubte ihr nun anscheinend auch.
Und das war das Ende von Vicki und Daniels erster Liebe!
Nach der Party saß Vicki wieder allein auf dem Schulhof, aß tonnenweise Schokoriegel und nahm noch mehr zu. Daniel, der ziemlich schnell begriffen hatte, was Lila gespielt hatte, versuchte Vicki zurückzubekommen. Aber sie beachtete ihn nicht mehr.
Ich staunte doppelt. Über Vicki und ihren unbeugsamen Stolz und über Lila und wozu sie fähig war. Nach ein paar Wochen hatte ich die Geschichte jedoch vergessen. Es gab Wichtigeres in meinem Leben als ein großes, dickes Mädchen, das einsam auf dem Schulhof hockte.
Das ist zehn Jahre her,
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