Glückskekssommer: Roman (German Edition)
steht eine Kundin und wartet auf mich!
Hat die Chefin ohne mein Wissen die Öffnungszeit auf 24 Stunden pro Tag geändert?
»Guten Abend, Frau Müller«, sage ich überrascht. »Ich mache nicht auf. Ich wollte eigentlich nur ein paar Sachen holen. Wir haben schon geschlossen.«
»Aber ich brauche das hier ganz dringend«, sagt sie und zerrt etwas aus ihrem Beutel. »Morgen heiratet doch meine Tochter, und ich habe nur das eine Kleid für festliche Gelegenheiten. Beim Anprobieren habe ich gesehen, dass es mir viel zu groß geworden ist.«
Und das fällt ihr einen Tag vorher ein?
»Wissen Sie, ich …«
Da klingeln bei mir ein paar Glocken. Sachen zu groß geworden. Total abgenommen?
Oh Gott, Frau Müller hat auch Krebs! Sie will die Hochzeit ihrer Tochter in einem schönen Kleid erleben, bevor sie stirbt.
»Kommen Sie rein«, sage ich und schließe die Werkstatt auf. »Ich mache es gleich.«
Während ich Maß nehme, wird mir auf einmal schwarz vor Augen. Wann habe ich das letzte Mal etwas gegessen? Ich weiß es nicht. Es fühlt sich an wie vorgestern, aber das ist natürlich Quatsch.
Ich fühle mich leer. Die Begegnung mit Karls Tochter hat mir zugesetzt. Vicki habe ich das ganze Wochenende nicht gesehen. Ob sie böse ist, dass ich nicht zu ihrer Lesung gekommen bin? Wäre ich doch lieber hingegangen!
Ich habe auf einmal große Angst davor, dass ich schon wieder alles falsch gemacht habe. Hört das denn niemals auf?
Eilig trenne ich die Seitennähte des Kleides auf. Frau Schmidt saust rüber zu den Jungs und holt mir ein Sandwich. Dann sitzt sie die ganze Zeit neben mir und bewundert meine Fingerfertigkeit. Mit ihrem Geplauder lenkt sie mich von meinen schwermütigen Gedanken einigermaßen ab.
Zum Glück habe ich Karl nichts von meinem geplanten Besuch bei seiner Tochter erzählt. Was wäre das für eine Enttäuschung für ihn!
Frau Müller bedankt sich überschwänglich und gibt mir ein Trinkgeld, als sie geht.
»Alles Gute«, sage ich. »Und viel Spaß morgen. Sind Sie denn jetzt wieder richtig gesund?«
Sie schaut mich verwundert an. »Wieso gesund? Ich war doch gar nicht krank.«
»Ach so? Ich dachte … Ich meine …«, stottere ich. »… weil Sie doch so abgenommen haben!«
»Ach das!«, ruft sie lachend. »Kindchen, ich gehe doch zu den ›Weight Watchers‹. 20 Kilo leichter in zwölf Wochen. Ich fühl mich fit, wie ein junges Mädchen.«
Sie mustert mich von Kopf bis Fuß. »Du hast es zum Glück nicht nötig«, sagt sie lächelnd. »Also dann. Tschüs!«
Ich könnte mich kaputtlachen. Oder heulen? Kopfschüttelnd schließe ich die Tür ab.
Was für ein Tag!
Es ist jetzt dunkel draußen – eine schöne warme Mittsommernacht mit sanftem Vollmondlicht.
Ich bin naiv! Na und?
Seit ich Karls Tochter kennengelernt habe, finde ich das gut!
Glückskeks 10
Ihre Argumente zünden jetzt und bescheren Erfolg.
»Lasse ich dich eigentlich zu viel allein arbeiten in letzter Zeit?«
Margret hat mich erwischt. Als sie in die Werkstatt kommt, liege ich mit dem Kopf auf meinem Nähtisch und schlafe. Es können höchstens drei Minuten gewesen sein. Dennoch ist es peinlich.
Was soll ich antworten? Für einen amüsierwilligen Nachtschwärmer geht so ein Arbeitspensum gar nicht. Aber ich hab ja nichts anderes als meinen Job im Moment. Schon wieder ist eine Woche vergangen, die aus nichts anderem als Nähen bestand. Ich kann und will die Kunden nicht so lange auf ihre Sachen warten lassen. Manchmal hängt ein ganzes Familienglück daran, ob ein Kleidungsstück passt oder nicht, ob es kaputt ist oder heil. ›Kleider machen Leute‹, sagt man. Und das stimmt. Ich würde allerdings noch weiter gehen. Kleider machen nämlich Liebe!
Und ich will nicht schuld sein, wenn meine Kunden keine Liebe bekommen. Es reicht doch wohl, wenn ich meine Beziehungen gründlich vermassele.
Na gut, ich übertreibe gerade ein bisschen. Aber ich habe einen guten Beweis für meine Theorie: Neulich kam die 15-jährige Nelly Winkler von gegenüber zu mir in den Laden. Sie hatte ihren Konfirmationsrock dabei. Der Saum war aufgerissen, und ich sollte ihn annähen. Kein Problem, auch wenn ich fand, dass das kesse Persönchen in dem Rock wie ein Walfisch im neunten Monat schwanger aussah. Ich machte mich an die Arbeit. Nelly erzählte fröhlich, dass sie mit dem Ding auf eine Party gehen würde. Da wollte sie den Jungen anbaggern, für den sie schon seit Wochen schwärmte. Mir stockte der Atem, denn in dem wallenden
Weitere Kostenlose Bücher