Glückskind (German Edition)
sagt er: »Und diese Auseinandersetzung hat sein Leben verändert?« »Oh ja!«, ruft Frau Tarsi. »Er war einfach nur sehr, sehr allein, der Ärmste!« Sie setzt ein entschlossenes Gesicht auf. »Jetzt kümmern wir uns um ihn.«
Herr Balci nickt. Er beschließt, sich damit zufriedenzugeben, um nicht durch zu viele Fragen seine angeschlagene Autorität noch weiter aufs Spiel zu setzen. Er ignoriert das vage Gefühl, nicht zum Kern der Angelegenheit vorgedrungen zu sein. Er lächelt Felizia zu, die noch immer seinen Zeigefinger umklammert hält und ihn aufmerksam beobachtet. Vorsichtig befreit er sich aus ihrem Griff. Dann steht er auf. »Wenn das so ist, dann brauchen Sie mich ja nicht mehr. Bestellen Sie ihm einen schönen Gruß von mir, und …«, er zögert, er will noch etwas Abschließendes sagen, etwas, was diesen Satz rund macht, aber ihm fällt nichts ein.
Frau Tarsi sagt: »Ihnen auch einen schönen Tag, Herr Balci. Besuchen Sie uns öfter!« Sie lächelt ihn wieder zuckersüß an.
Herr Balci nickt unbeholfen, dann verabschiedet er sich und verlässt die Wohnung, wie jemand, der aus einer verlorenen Schlacht flieht. Als er draußen auf dem Flur steht, atmet er tief durch. Er geht zum Fahrstuhl. Treppen steigen mag er jetzt nicht. Er denkt: Eigentlich ist es doch gar nicht so schlecht gelaufen. Er denkt: Ich bin hingegangen, habe mich erkundigt und alles in Erfahrung gebracht, was ich wissen musste. Und jetzt gehe ich wieder. Ganz normaler Vorgang. Als der Fahrstuhl kommt, ist Herr Balci der Ansicht, dass er eigentlich alles richtig gemacht hat. Er fährt hinunter in den ersten Stock. Was für ein süßes Baby! Komisch, dass er nichts von der Schwangerschaft bemerkt hat. Na ja, Haydee wohnt seit Jahren nicht mehr im Haus. Er zuckt mit den Achseln. Da kann man eben nicht alles mitbekommen. Als er seine Wohnung betritt, um einen zweiten Kaffee zu trinken, sinniert er noch kurz darüber, wie gut manche Babys es haben, während andere in eine Mülltonne geworfen werden.
Oben, in Hans’ Wohnung, hat Herr Tarsi ein Glas Tee getrunken und ein Stück geschälte Birne gegessen. Er hat seine Frau mit gerunzelter Stirn angeschaut und gesagt: »Besuchen Sie uns öfter?«
Frau Tarsi hat die Schultern hochgezogen, als wüsste sie nicht, was er von ihr will. Sie hat gesagt: »Er soll wissen, dass wir keine Angst vor ihm haben.« Dann hat sie Felizia angelächelt und gesagt: »Nicht wahr, mein kleiner Sonnenschein, mein kleiner, kleiner Sonnenschein, nicht wahr?«
Felizia hat auf Herrn Tarsis Birnenstück gezeigt. Herr Tarsi hat langsam den Kopf geschüttelt, als habe er sagen wollen: verrücktes Weib. Aber in Wahrheit hat er seine Frau für ihre Gerissenheit bewundert.
Währenddessen hat Hans in Herrn Wenzels Hinterzimmer gesessen und gewartet. Der Tisch ist für ihn mitgedeckt, aber Hans hat keinen Hunger. Er sitzt da und fragt sich, was Herr Wenzel ihm wohl sagen will. Nach einer Weile steckt der alte Mann den Kopf herein und reicht Hans eine Tageszeitung. Dabei macht er einen bedeutungsvollen Gesichtsausdruck. Die Zeitung ist dort aufgeschlagen, wo Hans lesen soll. Es geht um Eva M., die nun des Mordes angeklagt werden wird, genau wie Herr Lindner es seiner Frau beim Sonntagsfrühstück angekündigt hat. Die Suche nach Marie M. sei eingestellt worden, steht dort, man gehe davon aus, dass das Mädchen tot ist. Hans liest den Artikel zweimal. Dort steht auch, dass Eva M. in ein anderes Gefängnis gebracht werden soll. Er liest den Namen des Gefängnisses. Er kennt den Ort nicht. Es ist eine andere Stadt. Hans legt die Zeitung weg. Er weiß nicht, was er denken soll. Er weiß nicht, was er fühlt.
Endlich kommt Herr Wenzel herein. Der morgendliche Ansturm ist vorbei, nun hat er Zeit. Er setzt sich Hans gegenüber und schenkt Tee in zwei Tassen. Hans schaut ihm zu. Herr Wenzel wirft ihm einen weiteren bedeutungsvollen Blick zu. Dann lehnt er sich in seinem Sessel zurück, nimmt einen kleinen Schluck aus seiner Tasse und sagt: »Hans, erinnerst du dich an das Foto von Eva M., wo sie eine Zeitung auf dem Kopf hat, damit man sie nicht erkennt?«
Hans nickt und das Bild taucht wieder vor seinem inneren Auge auf. Aber er sieht die Zeitung nicht mehr, sie ist verschwunden, seit er Eva M. in die Augen geschaut hat.
Herr Wenzel beugt sich vor. Er stellt die Tasse ab. Er schaut Hans so intensiv an, dass der noch nervöser wird. Dann sagt Herr Wenzel: »Ich weiß, wer sie ist.« Er lächelt kurz, er ist selbst nervös
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