Glückskind (German Edition)
geworden. Er sagt: »Ich habe sie an ihrer Kleidung wiedererkannt. Sie heißt gar nicht Eva M. Sie heißt Veronika Kelber, sie ist jede Woche ein- oder zweimal bei mir im Laden gewesen.« Er macht eine Pause. Er sagt: »Um Zigaretten zu kaufen. Obwohl sie gar nicht rauchte. Die waren wohl für ihren Mann. Für sich selbst hat sie immer Brause gekauft.« Herr Wenzel lächelt, wie jemand, der sich an etwas Schönes erinnert. Er sagt: »Ahoj-Brause mit Waldmeistergeschmack. Jedes Mal. Die hat sie aufgerissen und sich in den Mund geschüttet, sobald sie aus dem Laden war. Wie ein Kind.« Er räuspert sich. Er sagt: »Ihre Kinder hatte sie immer dabei. Sie hatte wohl niemanden, der auf sie aufpasste, während sie fort war. Und jetzt kommt’s!« Er macht wieder eine Pause und schaut Hans an, als wolle er sagen: Ich weiß etwas, was du nicht weißt. Er sagt: »Sie war sogar mit Felizia einmal da, als sie noch ganz klein war, höchstens ein paar Wochen alt. Sie hat sie mir gezeigt und mir ihren Namen gesagt.« Er hebt die Augenbrauen. Er sagt: »Und es war nicht Marie. Das sind Namen, die sich die Polizei ausdenkt. Die tun das immer, wenn sie jemanden schützen wollen.« Herr Wenzel macht eine Pause. Er nimmt einen Schluck Tee. Er sagt: »Aber ich erinnere mich nicht mehr an ihren echten Namen.« Er schaut Hans an und gleichzeitig ist er in Gedanken. Plötzlich schüttelt er den Kopf. Er sagt: »Sie sah blass und erschöpft aus. Aber sie war glücklich über ihr Baby. Ich wäre nie auf sie gekommen, wenn ich nicht dieses Foto gesehen hätte. Da trägt sie nämlich eine Jacke. Das ist ihre Jacke, die trug sie ganz oft, wenn sie in den Laden kam. Deshalb habe ich sie wiedererkannt.« Herr Wenzel ist fertig, er hat seine Aussage gemacht. Er ist zufrieden, weil er so gut aufgepasst hat, und erleichtert, weil er es jemandem hat erzählen können. Jetzt greift er zur Tasse und trinkt seinen Tee.
Hans hat schweigend zugehört. Vor seinem inneren Auge sieht er eine junge Frau mit drei Kindern, die in Herrn Wenzels Geschäft steht. Er versucht, sie sich glücklich vorzustellen, aber es gelingt ihm nicht. Er sagt: »Woher wissen Sie ihren Namen, Herr Wenzel?« Herr Wenzel setzt seine Tasse auf die Untertasse. »Sie hat manchmal bei mir anschreiben lassen, meistens am Ende des Monats, wenn sie knapp bei Kasse war. Das habe ich nicht bei jedem gemacht. Aber sie war mir sympathisch.« Er schüttelt wieder den Kopf. »Wie man sich täuschen kann.«
Hans weiß immer noch nicht, was er denken soll. Er fühlt eine vage Trauer, als ob jemand gestorben wäre. Dabei ist es nur ein Deckname. Marie. Ich hatte mich schon an ihn gewöhnt, denkt er. Es gibt keine Felizia Marie. Es gibt nur noch eine Felizia Irgendwas. Nur noch einen falschen Namen, nicht mehr zwei, denkt er bitter. Er macht eine Geste, die Herrn Wenzel und die Zeitung umfasst, und sagt: »Ändert das etwas an der Situation?«
Herr Wenzel schüttelt heftig den Kopf. »Nein, nein, das ändert natürlich nichts. Aber ich dachte, es ist wichtig, dass du Bescheid weißt. Auch darüber.« Er zeigt auf die Zeitung, die auf dem Tisch liegt. Er sagt: »Das bedeutet ja nur, dass Veronika Kelber uns nicht mehr gefährlich werden kann. Sie hat den Mord gestanden, sie wird verurteilt werden, ihr Kind gilt als tot und Felizia bleibt bei dir.«
Hans nickt. »Ja«, sagt er, »das stimmt alles. Aber es ist nicht richtig.«
Herr Wenzel macht ein fragendes Gesicht.
Hans sagt: »Veronika Kelber ist in Wahrheit keine Mörderin. Aber wir lassen es zu, dass sie als solche verurteilt wird. Das meine ich.« Herr Wenzel hebt die Hände und ruft: »Mein Gott, Hans! Wenn du nicht gewesen wärest, dann wäre Felizia jetzt tot! Sie hat ihr Kind ausgesetzt, damit es stirbt. Dass sie nicht den Schneid hatte, es selbst zu töten, ist alles.«
Hans sagt: »Wir wissen doch gar nicht, warum sie es getan hat.«
»Spielt das eine Rolle?«, fragt Herr Wenzel aufgebracht.
Darauf hat Hans keine Antwort. Er zuckt mit den Achseln. Er will Felizia behalten, das ist das Einzige, was er mit Sicherheit weiß. Er hat Angst vor der Nähe dieser Wirklichkeit mit ihren wahren Namen, Veronika Kelber, das Gefängnis. Er hat Angst vor der Berührung mit Herrn Wenzels Worten, der Felizia schon einmal in seinem Arm hielt, als sie noch gar nicht Felizia war. Er will das alles nicht in seiner Nähe haben, denn er fühlt, dass Herr Wenzel sich irrt: Alles ändert sich, je mehr sie in Erfahrung bringen. Und er wünschte sich, Herr
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