Glückskind (German Edition)
Wenzel hätte Veronika Kelbers Jacke nicht erkannt und sich nicht erinnert und Felizia nicht in seinem Arm gehalten und nicht ihren wahren Namen gehört.
Er bedankt sich bei Herrn Wenzel und will gehen. Sie erheben sich und verlassen das Hinterzimmer. Hans’ Blick fällt auf die altmodische Kasse, die dort auf der Theke steht. Er hat kein Geld mehr, bis zum Ende des Monats sind es noch vier Tage. Das Geld vom Arbeitsamt kommt erst Anfang nächsten Monat. Hans atmet tief ein. Noch ein Problem. Er muss jetzt Herrn Wenzel um Geld bitten. Doch dann besinnt er sich anders und sagt nichts. Wenn man kein Geld hat, steht man auf der anderen Seite, denkt er.
Die Wahrheit aber ist, dass Hans sich wund fühlt, das Gespräch hat ihm mehr zugesetzt, als er wahrhaben will. Er kann jetzt nicht auch noch seiner Armut ins Antlitz schauen. Er winkt Herrn Wenzel zu, der hinter der Theke geblieben ist, und verlässt den Laden. Er überquert die Straße und betritt das Haus. Er ruft den Fahrstuhl und fährt hinauf. Als er im Flur angekommen ist, der zu seiner Wohnung führt, bleibt er an einem der großen Fenster stehen und schaut hinunter zu den Mülltonnen. Richtig, ich habe Felizia vor dem Tod bewahrt. Aber sagt das etwas über Veronika Kelber aus? Der Name berührt ihn seltsam, er wirkt so banal angesichts dieser todtraurigen Augen, die ihn anschauen, wenn er die Augen schließt. Wie eine Grobheit des Schicksals, denkt Hans, das einem plötzlich einen Namen hinwirft und sagt: Nun fang irgendetwas damit an. Was ist das für eine Frau, die für ihren Mann Zigaretten kauft?, fragt Hans sich. Ist das normal? Kann es noch normal gewesen sein, wenn anschließend das geschehen ist, was geschehen ist? Muss man nicht alles hinterfragen, sogar das Nebensächlichste? Hans seufzt. Er will nicht darüber nachdenken, er will, dass alles so weitergeht wie bisher. Er wendet sich von der Fensterfront ab und läutet an seiner Wohnungstür.
Frau Tarsi öffnet ihm mit Felizia auf dem Arm. »Endlich!«, ruft sie erleichtert aus. Als Felizia ihn sieht, wird sie sofort weinerlich und reckt ihm die Arme entgegen. Hans zieht seinen Mantel aus und nimmt sie auf den Arm. Hans entschuldigt sich, weil es so lange gedauert hat. Dann setzen sie sich ins Wohnzimmer. Am liebsten würde er nichts sagen, aber er hat keine Wahl. Er erzählt den Tarsis, was Herr Wenzel ihm berichtet hat. Als er fertig ist, sagt er: »Ich weiß nicht, was ich tun soll.« Er lächelt Felizia zu, die mit seinen Fingern spielt. Sie entwickelt sich so schnell, dass Hans sich fragt, ob sie nicht hoch begabt ist. Dann muss er lächeln. Denkt das nicht jeder Vater von seinem Kind? Hat er es nicht auch damals gedacht und sich später schuldig gefühlt, weil er die außergewöhnlichen Fähigkeiten seiner Kinder nicht zur Entfaltung hatte kommen lassen? Jetzt will er alles tun, damit die Zukunft nur noch von Felizia selbst abhängt. Niemand soll ihr Steine in den Weg legen. Damit sie zu dem Menschen werden kann, der sie ist. Auch du nicht, Hans, denkt er, vor allem nicht du. Aber was muss er dafür tun?
Frau Tarsi hat ihn beobachtet. Sie lächelt ihn freundlich an. Sie sagt: »Machen Sie es wie die Propheten: Warten Sie einfach, bis die Eingebung zu Ihnen kommt!« Sie schaut ihn mit großen Augen an. Sie sagt: »Ich bin sicher, Sie werden alles so tun, wie es getan werden muss.« Als sie sieht, dass Hans noch nicht beruhigt ist, wirft sie die Arme in die Höhe und ruft: »Was muss geschehen, damit Sie verstehen?« Sie schaut Hans an und seufzt: »Sie haben doch schon so viel Glück gehabt.« Sie legt ihm eine Hand auf den Unterarm. »Wenn Sie nicht auf Gott vertrauen können, dann vertrauen Sie auf mich. Ich glaube für uns beide.« Sie lächelt ihn an und er sieht, dass sie es ernst meint.
Herr Tarsi sagt: »Jetzt muss er aber frühstücken.«
Und dann frühstücken sie gemeinsam und Hans vergisst für eine Weile seine Gedanken. Die Tarsis erzählen von Herrn Balcis Besuch. Zuerst erschrickt Hans, aber dann lachen sie gemeinsam darüber. Frau Tarsi ruft: »Dieser Herr Balci ist der reinste Blockwart. Das kann nur bedeuten, dass er noch länger in Deutschland lebt als wir!« Dann lacht sie wie über einen guten Witz und Hans schluckt, bevor er mitlacht. Felizia lacht auch mit, denn sie findet das Lachen an sich sehr lustig. Und da lachen sie alle noch ein wenig länger, man kann mitten im Lachen einen neuen Grund für das Lachen finden, das fällt Hans jetzt zum ersten Mal auf, mitten im
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