Glückskinder – Warum manche lebenslang Chancen suchen - und andere sie täglich nutzen
haben.
Ich habe noch kein Kind gesehen, das einen Tag vertrödelt hätte! Da wird gespielt und gelernt auf Teufel komm raus. Und am Abend kommt das große Heulen, weil es ins Bett muss und die ganze Nacht verpasst! Ich kann diesen allabendlichen Abschiedsschmerz vom Leben, diese Traurigkeit, schlafen gehen zu müssen, die kleine Kinder noch haben, gut verstehen – wohl im Gegensatz zu vielen Eltern. Es ist schrecklich, wie viele Stunden wir bis zu unserem Tod verpennen! Auch ich könnte manchmal heulen, wenn ich nicht weiterspielen darf, nur weil der Körper seinen Schlaf will.
Third Life
Schlimmes zieht Schlimmes nach sich: Das bewusstlose Vertrödeln ist nur ein Aspekt. Weil uns der einzelne Tag nichts wert ist, verschieben wir außerdem ständig Wichtiges auf morgen. Aber morgen ist der einzige Tag, der niemals stattfindet. Das ist so wie in dieser Kneipe in Essen, wo eine Tafel über dem Tresen hängt, auf der steht: Morgen gibt’s Freibier. Und wenn Sie am nächsten Tag durstig ankommen, hängt die Tafel noch immer über dem Tresen: Morgen gibt’s Freibier.
Dieses Leben ist keine Generalprobe.
Wie viele Abende leben Sie wirklich und wie viele Abende träumen Sie davon, zu leben? Der Aufschub ist der Dieb der Zeit. Da vertagen wir unser Leben tagtäglich auf morgen und merken es nicht einmal. Zwischenzeitlich gehen wir in Rente. Dann sind die Rosen längst verblüht, die Freunde, mit denen wir feiern wollten, sind schon tot, und nach Australien können wir nicht mehr reisen, weil wir zu gebrechlich sind. Wir tun so, als ob wir dann noch ein Knöpfchen hätten, auf das wir klicken könnten:
Next Level
. Oder: Neustart. Dieses Leben ist keine Generalprobe. Es ist die einzige Gelegenheit.
|63| Bei der Bundeswehr nehmen viele Menschen ein Maßband, um zu messen, wie viel Tage sie noch haben, bis die Pflicht ein Ende hat. So könnten Sie ein Maßband des Lebens für ihre durchschnittliche Lebenserwartung nehmen und jeden Tag einen Tag abschneiden. Das würde Ihnen täglich bewusst machen, dass das Band täglich kürzer wird. Wenn Sie den abgeschnittenen Zentimeter zu Boden fallen sehen, denken Sie: ›Aus. Ende. Das Stück ist endgültig abgeschnitten, der Tag kommt nie mehr zurück.‹
Der Todestag ist nur der letzte Tag unseres Lebens.
Wir merken immer erst am Ende, dass wir am Anfang schon zu viel Zeit verloren haben. Aus der Projektplanung ist bekannt, dass wertvolle Zeit immer am Anfang verloren wird, weil man ja »noch so viel Zeit« hat bis zum Ende. Dabei ist jeder einzelne Tag, egal ob am Projektanfang oder am Projektende, gleichwertig und gleich wichtig. Genauso ist es im Leben, egal ob als Twen oder als Rentner. Wir sterben täglich. Der Todestag ist nur der letzte Tag unseres Lebens. Jeder einzelne Tag zuvor ist schon genauso vergangen und war ebenso wie der letzte vielleicht ein 25 000stel Tod.
Außer dem Vertrödeln und dem Verschieben auf morgen werden wir auch immer besser im Verschieben des Lebens in eine virtuelle Realität. Überlegen Sie mal: Sie sagen und glauben, Sie seien gerade in Facebook, aber in Wahrheit sind Sie nicht in Facebook, das ist nur eine Illusion. In Wahrheit sitzen Sie auf einem Stuhl. Sie sitzen ziemlich still und bewegen sich kaum. Was sich bewegt sind ihre Hände und Finger und Ihre Augen. Sie starren auf einen Flachbildschirm, auf eine leuchtende Fläche, die ungefähr 50 Zentimeter vor Ihren Augen steht. Was Sie sehen, wenn Sie sehen, sind Buchstaben und Fotos von Menschen. Was Sie fühlen, wenn Sie fühlen, sind die Tasten unter Ihren Fingerkuppen und das Sitzpolster unter Ihrem Hintern. Was Sie hören, wenn Sie hören, ist das Klackern der Tastatur. Das ist alles. Sie sind da, am Schreibtisch. Nicht in Facebook. Facebook ist nicht da. Ihr Geist ist nicht da. Sie sehen und fühlen und hören meistens gar nichts. Sie sind außer sich. Manchmal stundenlang.
|64| Überlegen Sie mal wie die Bilanz am Ende Ihres Lebens aussehen wird: Wie viele Stunden werden Sie insgesamt vor dem Fernseher verbracht haben? Wie viele Stunden im Internet bei Facebook und Co? Und Sie glauben, Sie haben auch in diesen vielen Stunden das Leben gelebt und gespürt. Dabei haben Sie unmittelbares Lebensgefühl durch Mittelbares ersetzt, durch Tastatur, Touchscreen und Fernbedienung. – Ja, ich bin auch in Facebook! Und ich freue mich, wenn Sie mich adden, Sie finden mich leicht, wenn Sie wollen, aber bitte: Lassen Sie uns auch noch was anderes machen!
Diese zweite Realität kann unsere
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