Glücksspiele: Kollers sechster Fall (German Edition)
Medaille nicht.
Auch Labore machen Fehler. Es gibt Athleten, die haben von Natur aus einen erhöhten
Hämoglobinwert und leben gut damit. Andere haben womöglich aus Versehen kontaminierte
Nahrung zu sich genommen. Sobald einer erwischt wird und seine Unschuld beteuert,
steht er in der Nachweispflicht. Das ist das Problem.«
»Aber alle
sagen doch, sie seien unschuldig. Doper und Nichtdoper.«
Wieder lachte
er. »Kommt auf ihre Argumente an. Avocado zum Beispiel überzeugt mich nicht.«
»Avocado?«
»Linford
Christie, 1999, Nandrolon. Um seinen Testwert zu erreichen, hätte er schon eine
Wagenladung voll futtern müssen.«
»Verstehe.«
»Oder der
US-Sprinter mit dem überhöhten Testosteronspiegel: weil er vor dem Wettkampf viermal
Sex mit seiner Freundin gehabt haben will.«
»Die arme
Frau.«
»Wie man’s
sieht. Übrigens klopft meine Frau gerade in der Leitung an. Ich muss Schluss
machen. Wir können aber gern in Kienbaum weiterplaudern. Ich habe gehört, Sie kommen
mit.«
»Sie sind
auch dort?«
»Bis dann!«
Fort war
er, der gute Dr. Karst. Wenn es um familiäre Angelegenheiten ging, wollte ich nicht
im Weg stehen. Kopfschüttelnd legte ich den Hörer zur Seite. Vier Mal Sex! Und eine
Tonne Avocado. Diese Spitzensportler schreckten vor nichts zurück.
17
Als die glorreiche Deutsche Demokratische
Republik vor über zwei Jahrzehnten das Zeitliche segnete, hinterließ sie ihren westdeutschen
Erben neben einer Menge Ramsch auch das eine oder andere Stück Tafelsilber. Und
was hatte im Sozialismus ganz besonders geglänzt, zumindest an der olympischen Oberfläche?
Genau: der Sport. In Bonn war man über die Bedeutung von UM, OT und des Staatsplans
14.25 natürlich längst im Bilde, doch anstatt das sozialistische Dopingunwesen auf
den Müll der Geschichte zu kippen, tat man das Gegenteil: Man verleibte es sich
ein. Von Rostock bis Plauen wurden Forschungseinrichtungen geschlossen, nicht aber
die Leipziger Hochschule für Körperkultur und ebenso wenig der Sportmedizinische
Dienst in Kreischa. Während die Leipziger für die chemische Grundausstattung der
DDR-Athleten zuständig gewesen waren, hatten die in Kreischa dafür gesorgt, dass
niemand bei den Wettkämpfen aufflog. So stand es in Daniela Werners Buch.
Auch das
Leistungszentrum in Kienbaum gehörte zu den ostdeutschen Errungenschaften, die man
gern übernahm. Seit den Fünfzigerjahren wurde in dem brandenburgischen Nest bei
Berlin gerannt, gesprungen und geworfen. Mittlerweile gab es dort Anlagen zum Zungeschnalzen:
Trainingsplätze für Leichtathleten, Fußballer, Tennisspieler, Boxer, zwei Ruderstrecken
im Liebenberger See, Krafträume noch und nöcher, Schwimm- und Turnhallen, darunter
eine mit einer Deckenhöhe von über zwölf Metern.
Ins Kopfschütteln
kam ich aber erst, als mir Katinka auf der Hinfahrt erzählte, dass in Kienbaum alljährlich
ein Lauf über 100 Kilometer stattfand. Auf einer 5-km-Runde!
»Sei mir
nicht böse«, meinte ich, »aber weißt du, was ich davon halte?«
»Sieht man
dir eh an.«
Natürlich
genossen die Sportler in Kienbaum eine umfassende medizinische und physiotherapeutische
Betreuung. Auch die Unterbringung war nicht übel. Wir bekamen einen der schnieken
Pavillons zugewiesen, die an die Stelle der legendären DDR-Baracken getreten waren.
Allerdings schienen sich noch nicht alle mit diesen baulichen Neuerungen arrangiert
zu haben.
»Wohnen
tun Se in Objäggd Nummer zwo«, beschied uns die Empfangsdame und wedelte mit zwei
Schlüsseln.
Auch sonst
begegnete man dem speziellen Ostcharme auf Schritt und Tritt. An vielen Stellen
waren noch die Betonplatten von anno dazumal in den Boden eingelassen, andere Gebäude
hatten seit der Wende bloß einen neuen Anstrich erhalten. Als wir gleich nach der
Ankunft eine Runde durch das Gelände drehten, kamen wir an halb zugewucherten Häuschen
vorbei, von denen die mattgrüne Farbe blätterte. Etwas weiter am See dämmerte eine
alte Pumpstation vor sich hin, hinter den Scheiben hingen noch original DDR-Gardinen.
Und urplötzlich öffnete sich wie von Geisterhand das schwere Tor einer Materialhalle
mit jämmerlichem Quietschen.
Es war,
als würde der Eiserne Vorhang zurückgezogen.
Aber sonst:
alles schick, alles neu, von der Finnischen Sauna am Seeufer bis zur medizinischen
Abteilung mit ihrem Springbrunnengeplätscher. Rot leuchtete die eine der beiden
Kunststoffbahnen, auf denen Katinka trainieren wollte, blau die andere.
»Magst du
die
Weitere Kostenlose Bücher